Das Drama von MexikoAls Schumachers Grätsche Deutschlands Libero-Hoffnung aus allen Träumen riss
Ben Redelings
Matthias Herget war im Sommer 1986 mit großen Hoffnungen nach Südamerika gereist. Er wollte als Libero des DFB-Teams den WM-Titel in Mexiko holen. Doch dann riss eine dramatische Aktion den Profi von Bayer Uerdingen aus allen Träumen. Heute feiert er seinen 70. Geburtstag.
"Mexiko war sicherlich keine angenehme Erfahrung für mich, aber ich zucke heute nicht mehr zusammen, wenn das Wort fällt." Für Matthias Herget sollte es die Krönung seiner Karriere werden. Weltmeisterschaft 1986 mit der deutschen Nationalmannschaft in Mexiko. 30 Jahre war er damals alt. Der Mann, der in Annaberg-Buchholz im sächsischen Erzgebirgskreis geboren und in Gelsenkirchen groß geworden war. Erst seit drei Jahren trug er damals das DFB-Trikot. Herget war der 16. Libero in der Nationalmannschaft nach dem Karriereende von Franz Beckenbauer. Er galt in diesen Tagen als der erfolgreichste Nachfolger des Kaisers. Doch das sollte sich in Mexiko ändern. Auf dramatische Art und Weise.
Herget hat später immer wieder betont, dass diese Wochen in Südamerika für ihn alles andere als einfach gewesen sind. Denn die meiste Zeit saß er während der WM nur auf der Bank: "Das war bitter, ich war als Stamm-Libero mitgefahren." Und eigentlich hatte es auch so ausgesehen, dass der Profi von Bayer Uerdingen im Auftaktspiel gegen Uruguay in der Startelf stehen würde - doch dann passierte etwas, das Herget aus der Bahn warf. DFB-Keeper Harald Schumacher senste seinen Kollegen in einer Übungseinheit böse um. Mittlerweile weiß man: Schumacher tat dies mit voller Absicht!
Heute sagt Herget über diese schweren Momente: "Toni hatte mit meiner Art Fußball zu spielen, offenbar ein Problem." Und so verschaffte ihm der Nationalkeeper in den entscheidenden Trainingstagen vor dem ersten Spiel der WM einige Tage Pause. Danach war nichts mehr wie zuvor. Herget haderte mit seinem Schicksal und fraß den Frust über seine Nichtberücksichtigung für die Startelf in sich hinein. Der "Spiegel" beschrieb damals mit eindrücklichen Worten die Gefühlswelt der Libero-Hoffnung: "Er schluckt seine Wut mit beängstigender Tonlosigkeit. Man meint, die Magengeschwüre wachsen zu hören, wenn man ihm gegenübersitzt. Sein blasses, sensibles Gesicht, das ohnehin in der Öffentlichkeit zu einer skeptischen, leicht arrogant wirkenden Maske zu erstarren pflegt, ist jetzt fahl und eingefallen. Die Haut spannt, als sei sie zu knapp bemessen."
"Wer das nicht aushält ..."
Nach außen versuchte Herget die Fassung zu wahren ("Elf können nun mal nur spielen. Wer das nicht aushält, gehört sowieso nicht hierher"), doch das gelang ihm nur schwerlich. "Das Glück der späten Tage", wie eine DFB-Broschüre vor der WM die Zeit von Herget in Mexiko umschrieb, hatte sich in Frust und Wut gewandelt. Nur mit Mühe schaffte es Herget auch dem Teamchef gegenüber nicht auszurasten. Stattdessen sagte er: "Ein Arbeiterjunge flippt nicht aus" - und spielte damit auf seine Herkunft ("Der Kumpel, der aus der Kohle kommt") und sein schweres, persönliches Schicksal an. Sein Vater hatte als Bergmann gearbeitet und, wie so viele andere Familienväter in dieser Region, eine Staublunge von "Unter Tage" mit nach oben gebracht. Als sein Vater mit nur 49 Jahren starb, prägte das den jungen Herget für sein Leben.
Der frühere Tod des Vaters war vermutlich auch einer der Gründe, warum Herget trotz seines Jobs in Krefeld weiterhin in Gelsenkirchen, in der Nähe zur Zeche Consol, lebte: "Hier in Bismarck wohne ich und bleibe ich, hier fühle ich mich wohl, hier gehöre ich hin." Der Gelsenkirchener Stadtteil war damals ein graues Arbeiterviertel in der Nähe des Parkstadions. Kein Ort, wo Fußballstars eigentlich wohnen sollten, wie Hergets damaliger Trainer Kalli Feldkamp fand: "Okay, wenn der Mattes gern dort wohnt, aber er ist doch Profi. Da liegt Schalke bis Saudi-Arabien alles drin an möglichen Arbeitsstätten. Da muss man doch beweglich sein!" Doch Herget blieb in seiner Heimat wohnen - und fuhr täglich die Strecke zum Training. Es sollte seine sportliche Leistung nicht beeinflussen.
Denn in Krefeld bei Bayer Uerdingen feierte Matthias Herget in den 80er-Jahren seine größten Erfolge. Mit seinem Team schaffte er 1983 sensationell in der Relegation gegen den FC Schalke 04 den Aufstieg in die erste Fußball-Bundesliga. Bayer wuchs in dieser Zeit zu einer richtig guten Adresse im deutschen Fußball heran. So holten die Krefelder 1985 mit einem 2:1-Erfolg über die Bayern letztendlich verdient den DFB-Pokal. Und spätestens mit dem "Wunder von der Grotenburg", als Uerdingen im Europapokal der Pokalsieger nach einer 0:2-Hinspiel-Niederlage und einem 1:3-Pausenstand das Spiel gegen Dynamo Dresden noch drehte und schlussendlich in einer Jahrhundertpartie mit 7:3 gewann, redete ganz Deutschland von dieser Mannschaft.
Würdiger Libero-Nachfolger für Beckenbauer?
Und von Matthias Herget. In ihm sahen die Deutschen endlich einmal einen würdigen Libero-Nachfolger für den "Kaiser" Franz Beckenbauer. Eine Rolle, die Fluch und Segen zugleich für Herget bedeutete, wie er einmal erzählte: "Eine sehr wichtige Position innerhalb einer Fußballmannschaft, ein heikles Thema in Bezug auf die Nationalelf. Da wird noch heute jeder Libero an einem gewissen Mann gemessen, dessen Zeit lange zurückliegt. Eine Zeit, in der noch ganz anderer Fußball gespielt wurde, sodass man beides eigentlich nicht miteinander vergleichen kann. Der Libero ist nach wie vor meine Lieblingsposition, weil ich aus ihr eine ganze Menge machen kann. Ein verantwortungsvoller, aber angenehmer Posten."
Bei der Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko sollte er diesen Posten allerdings nur in der verlorenen Partie gegen die Dänen einmal ausfüllen dürfen. Und als er sich zwei Jahre später bei der EM im eigenen Land im Halbfinale gegen die Niederlande verletzte und zur Pause vom Platz musste, war das Kapitel Libero in der deutschen Nationalmannschaft mit Hergets Abgang fast schon für immer beendet. Doch das interessierte einen gewissen Horst Offen aus Hildesheim damals eh nur am Rande. Stattdessen sprach er in einem Leserbrief eine Marotte an, die ältere Fußballfans sicherlich in der Erinnerung schmunzeln lassen: "Warum spielen Herget und Burgsmüller immer mit dem Trikot über der Hose? Alle anderen stecken das Hemd ordentlich rein, nur diese beiden - immer eine Extrawurst. Das ärgert mich!"
Mit 29 Jahren sagte Matthias Herget damals: "Ich möchte gern mal in Gelsenkirchen ein Sportgeschäft aufmachen, denn ein Leben ohne Sport kann ich mir nicht vorstellen." Dazu ist es nicht gekommen - doch dem Fußball ist er vor allem als Trainer in Schulen für Kinder stets treu geblieben. Nur in Gelsenkirchen-Bismarck wohnt Matthias Herget heute nicht mehr. Er ist eine Stadt weiter, nach Essen gezogen. Dort hat er damals übrigens im Trikot von Rot-Weiss für ein echtes Unikum gesorgt. Denn am 13. September 1980 verwandelte Herget in der 2. Halbzeit gegen Holstein Kiel drei Elfmeter. Es ist bis heute der einzige Strafstoß-Hattrick im deutschen Profifußball. Sein leider viel zu früh verstorbener Freund und Kollege Frank Mill hatte in der ersten Halbzeit an diesem Tag übrigens ebenfalls bereits einen Hattrick erzielt.
Heute feiert der letzte große Libero des deutschen Fußballs seinen 70. Geburtstag. Alles Gute und Glück auf, lieber Matthias Herget!
