
Der junge Gerd Müller im August 1965.
(Foto: imago images/Horstmüller)
In ihren Beileidsbekundungen haben gestern noch einmal viele ehemalige Spieler daran erinnert, welchen großen Stellenwert Gerd Müller für den Erfolg des FC Bayern hatte. Doch fast wäre es nie zum Wechsel des begehrten Stürmers zum späteren Rekordmeister gekommen. Eine irre Geschichte.
"Gerd Müller wird noch einmal froh sein, wenn er wieder bei Nördlingen spielen darf!" Die Damen und Herren der kleinen Gemeinde mit der mittelalterlichen Stadtmauer waren sich 1964 ziemlich sicher, dass die Entscheidung ihres bulligen Mittelstürmers für einen Wechsel in die Weltstadt München ein großer Fehler sei. Doch da die Mutter des gerade erst 18-jährigen Torjägers mit der ganzen Situation völlig überfordert und langsam, aber sicher dabei war, die Nerven zu verlieren, hatten sie sich schließlich erweichen lassen und die Wohnung der Müllers unverrichteter Dinge verlassen.
Bis heute ist der Transfer des größten und erfolgreichsten Stürmers in der Geschichte des deutschen Fußballs eine Legende - denn die genauen Abläufe seines Wechsels zum FC Bayern München wurden nie ganz geklärt. Müller selbst war es, der in späteren Erzählungen für Verwirrung sorgte. Vermutlich auch deshalb, weil sich die Ereignisse damals, im Sommer 1964, überschlugen und hinterher auch dem Torjäger selbst aller Wahrscheinlichkeit nach nicht immer mehr jedes Detail geläufig war. Klar ist nur: Eigentlich wollte Gerd Müller - wenn es denn nach seinem Herzen gegangen wäre - weder zum TSV 1860 München noch zum FC Bayern wechseln, denn wie gab er später einmal zu: "Seit jeher war ich ein begeisterter Anhänger des 1. FC Nürnberg gewesen."
Doch der Club machte damals keine Anstalten - und wird sich später sicherlich das eine oder andere Mal geärgert haben, dass sie das Talent, das ihnen so wohlgesinnt war, nicht auf der Liste hatten. Doch zurück zu der irren Transfergeschichte rund um den begehrten Stürmer des TSV Nördlingen im Jahr 1964. Denn die Story ist aberwitzig - und so in der heutigen Zeit absolut undenkbar. Alles begann an einem Samstagmittag um 12.30 Uhr in der Wohnung der Müllers. Als Gerd an diesem Tag vom Billardspielen mit seinen Freunden nach Hause kam, informierte ihn seine Mutter, dass zwei Herren aus München in der guten Stube säßen und auf ihn warteten. Und da ein Bekannter kurz zuvor eher beiläufig erzählte hatte, dass der TSV 1860 an ihm interessiert sei, glaubte der junge Gerd nun, dass es sich bei den beiden Männern wohl um Vertreter des Klubs aus Giesing handeln müsste. So weit, so gut.
Bayern, 60 oder Nördlingen? Gerd Müller muss sich entscheiden
- Ben Redelings ist ein Bestseller-Autor und Komödiant aus dem Ruhrgebiet.
Sein aktuelles Werk ist das Sonderheft "Europa kickt im Revier. EM 2024 im Herzen des Fußballs" zusammen mit dem Reviersport-Team.
Mit seinen Fußballprogrammen ist er deutschlandweit unterwegs. Infos & Termine auf www.scudetto.de.
Doch an dieser Stelle gibt es in den Schilderungen Müllers in späteren Jahren eine kleine, aber wesentliche Abweichung. Einmal erzählte er über diesen historischen Moment: "Nach einer knappen Stunde waren wir klar. 5000 Mark Handgeld und 500 Mark Monatsgehalt. Das war wie ein Lottogewinn für mich. Ich saß also da und dachte, ich hätte bei 1860 München unterschrieben." Doch in seinem Buch "Tore entscheiden" stellt Müller unmissverständlich klar, dass er nie die Absicht gehabt hatte, zum TSV 1860 München zu wechseln und deshalb die beiden Männer direkt versucht habe abzuwimmeln - bis ihm irgendwann aufging, dass Herr Fembeck und Herr Sorg vom Stadtrivalen FC Bayern kamen. Und nun zeigte sich Gerd Müller plötzlich sehr interessiert.
Da sein Vater kurz zuvor gestorben war, lag die ganze Verantwortung für die sportliche Zukunft ihres Sohnes nun bei Frau Christina Karoline Müller - und das überforderte sie sichtlich und ließ sie zögern. So lange, bis es vorne an der Tür wieder klingelte. Und nun standen tatsächlich Vertreter des TSV 1860 München draußen und baten um ein Gespräch. Flugs schaffte man Herrn Fembeck und Herrn Sorg über den Hofeingang hinaus - mit der Bitte jedoch, dass diese in einem nahegelegenen Restaurant auf das Ende des Besuchs des Lokalrivalen warten sollten. Man wolle die Vertreter des TSV 1860 so schnell wie möglich wieder hinausbefördern. Und das gelang, wie sehr sich auch Herr Maierböck von den Blauen alle Mühe gab. Doch Gerd wollte nun unbedingt zum FC Bayern.
Also holte man die beiden Herren aus dem Restaurant zurück in die gute Stube der Müllers und verhandelte weiter. Und tatsächlich: Nach einiger Zeit hatte man auch die Mutter überzeugt und wurde sich einig. Da Gerd aber auch schon dem TSV Nördlingen seine Zusage gegeben hatte, mussten Herr Fembeck und Herr Sorg noch einmal rüber ins Restaurant verschwinden, damit der begehrte Stürmer mit den Vertretern seines Heimatklubs alles klarmachen konnte. Doch das war leichter gesagt als getan. Denn neben dem 1. Vorsitzenden, dem Jugendleiter und dem Abteilungsleiter hatten schließlich auch noch einige weitere Herren im Wohnzimmer der Müllers Platz genommen und kannten nur ein Ziel: den Verbleib des jungen Gerd Müllers beim TSV Nördlingen. Als die Sonne jedoch langsam unterzugehen drohte und die Männerrunde die völlig aufgelöste Mutter sahen, ließen sie sich schließlich doch noch erweichen - und gaben ihren Torjäger frei.
Müller wird nervös
Wer jetzt allerdings glaubt, dass nun alles ganz schnell ging, den muss man enttäuschen. Denn obwohl Herr Fembeck versprochen hatte, bereits am kommenden Mittwoch mit dem unterschriftsreifen Vertrag aus München nach Nördlingen wiederzukommen, machte der Vertreter des FC Bayern seine Ankündigung nicht wahr. Und das ließ Gerd Müller so nervös werden, dass er begann, sich Fragen zu stellen: Hatten die Bayern vielleicht von seiner "Zurückstellung bei der Bundeswehr" erfahren? Und glaubten sie nun, dass dies an seinem "dicken Hals" liegen möge? Er etwa eine "Drüsengeschichte" habe, weswegen sein "Atem für 90 Spielminuten zu kurz werden" könnte?
Schließlich nahmen sein Bruder und sein Schwager die Sache in die Hand und konnten alles klären. Nach der sportärztlichen Untersuchung unterschrieb Gerd Müller seinen Vertrag beim FC Bayern München und schoss in der Folge so viele Tore wie niemand sonst für diesen Verein. Gut für die Münchener von der Säbener Straße, dass dieses irre Transferkapitel am Ende doch noch positiv für sie ausging. Denn wie schrieb Paul Breitner gestern in seinem Nachruf völlig zu Recht: "Gerd ist der Sockel, auf dem der große FC Bayern unserer Tage entstanden ist." Und dass es dazu überhaupt erst kommen konnte, ist der Hartnäckigkeit der Herren Fembeck und Sorg an diesem legendären Samstag im Sommer des Jahres 1964 zu verdanken.
Quelle: ntv.de