Redelings Nachspielzeit

Redelings über den Kommerzwahn Wenn die Sportschau nicht mehr heilig ist

Zu Rahns Zeiten, da war die Fußballwelt noch in Ordnung.

Zu Rahns Zeiten, da war die Fußballwelt noch in Ordnung.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Karl-Heinz Rummenigge träumte von einem Stadion mit Einkaufszentrum. Fans träumen von einem gemeinsamen Bier mit ihren Idolen. Genau dazwischen ist viel kaputt gegangen. Nur die Liebe zum Fußball bleibt!

Es ist eine meiner Lieblingsgeschichten. Ende November 1958 reisten die Kleeblätter aus Oberhausen zur Essener Hafenstraße. Friedhelm Kobluhn und "Boss" Rahn kämpften vor den Augen des Schiedsrichters mit allen fairen und auch unfairen Mitteln gegeneinander. Kobluhn ließ den Essener so manches Mal über den Platz rutschen, einmal sogar bis auf die Aschenbahn. Die aufgebrachten Zuschauer forderten in dieser Szene lauthals einen Platzverweis für Kobluhn.

Der aber beugte sich über den in der grauen Asche liegenden Weltmeister und brüllte: "Markier mal nicht so. Du kannst ja gar nicht Fußball spielen, sondern nur saufen." Helmut Rahn blickte entspannt zum RWO-Verteidiger auf und entgegnete ruhig: "Und du kannst beides nicht!"

Als Romantiker höre ich mir immer und immer wieder voller Wehmut die Geschichten alter Fußball-Recken an, wie sie früher nach den Spielen zusammen in der Kneipe mit den Fans bei ein paar eisgekühlten Getränken die vorangegangene Partie analysiert haben. Was mich daran begeistert? Diese einfache Symbolik: Das sind Menschen wie du und ich, die den Fußball lieben – aber am Ende des Tages auch wissen, dass es nur ein Spiel ist.

Ben Redelings ist "Chronist des Fußballwahnsinns" (Manni Breuckmann) und leidenschaftlicher Anhänger des VfL Bochum. Der Autor, Filmemacher und Komödiant lebt in Bochum und pflegt sein Schatzkästchen mit Anekdoten. Seine kulturellen Abende "Scudetto" sind legendär. Für n-tv.de schreibt er stets dienstags die spannendsten und lustigsten Geschichten auf. Sein Motto ist sein größter Bucherfolg: "Ein Tor würde dem Spiel gut tun".

Doch leider ist es nicht mehr nur ein Spiel. Es ist ein riesiger Wirtschaftsbetrieb, in dem man zum Beispiel die Einführung des Videobeweises nicht mit dem Argument "Gerechtigkeit" fordert, sondern mit den "vielen Millionen, um die es geht" begründet. Das Problem dabei: Uns Fußballfans interessieren diese Millionen einen feuchten Kehricht. Uns interessiert einzig und allein, ob unsere Mannschaft "beschissen" wurde oder der Schiedsrichter einfach nur Tomaten auf den Augen hatte. Die zweite Möglichkeit mit dem Gemüse ist zwar auch nicht schön, aber das kann passieren. Auch Schiedsrichter sind eben nur Menschen.

Aber nicht nur das Geld hat dazu geführt, dass die Spieler und der ganze Fußballbetrieb uns "entrückt" sind. Vor ein paar Jahren stand ich in Köln in einem Supermarkt in der Schlange vor der Kasse. Der FC war gerade wieder einmal drauf und dran, in die Zweite Liga abzusteigen. Dementsprechend war die Stimmung in der Stadt: Jeder Tag gefühlt ein Aschermittwoch.

"Trainieren sollst du!"

Dann kam plötzlich Getuschel auf. Ein Spieler des ersten Fußballklubs Köln stünde ganz vorne an der Spitze der Schlange, munkelte man. Ein älterer Herr nahm die Meldung gefasst auf. Er packte sich einen etwa siebenjährigen Jungen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Daraufhin marschierte der Kleine nach vorne an die Kasse und schrie wütend: "Du sollst trainieren und nicht einkaufen!" Ohrenbetäubende Stille war die Folge. Dann ging es endlich weiter.

C-Bundesliga-Album Ben Redelings-8-2.jpg

Gestern erzählte mir mein Vater, dass für meinen Patenonkel der Fußball nicht mehr so wichtig sei. Das hört sich banal an, aber das ist es beileibe nicht. Nach über 50 Jahren ist ihm plötzlich ein Termin nicht mehr heilig: Samstagabend, 18 Uhr, "Sportschau"-Zeit. Wer er in diesen zwei Stunden früher gewagt hat anzurufen, hat es bereut – und nie wieder getan!

Mein Onkel meinte: Natürlich schaue er noch hin, und ja, die Ergebnisse des HSV gucke er stets im Videotext nach, aber bei Niederlagen gehe es ihm nicht mehr ein komplettes Wochenende lang schlecht. Warum das alles so passiert sei, das wüsste er nicht, aber irgendwie seien die Gefühle abhanden gekommen.

Am Mittwoch treffen die Bullen aus Leipzig im Spitzenspiel auswärts auf den FC Bayern. Die Partie ist selbstverständlich wie jede Begegnung der Roten seit dem Einzug in die Arena ausverkauft. Das war vor knapp 27 Jahren noch undenkbar. Im Jahr 1989 träumte Karl-Heinz Rummenigge davon, dass ein Kaufhaus-Konzern wie "Karstadt" zusammen mit den Bayern ein neuartiges Stadion entwirft: "Es kann ein Einkaufszentrum mit großen Geschäften, Läden, Boutiquen und Kinos sein. Sie können die Familie mit einbeziehen: Die Frau, die überhaupt kein Interesse am Fußball hat, geht in der Zeit einkaufen, guckt sich Geschäfte an, macht, tut, was sie will. Das Kind, das auch kein Interesse hat, geht ins Kino. Und der Vater geht zum Fußball und trifft sich um 17.30 Uhr mit der Mutter wieder am Punkt x und fährt nach Hause. Und alle drei sind glücklich und zufrieden und haben einen wunderbaren Samstag ohne Streit."

Wie wir heute wissen: Das war zu kurz gedacht. Mittlerweile ist Fußball zu einem Familien-Event geworden. Die "wunderbaren Samstage ohne Streit" sind Realität. Auch wenn ich sagen kann: Meine Frau freut sich immer noch auf die freien Nachmittage, an denen ich alleine mit den Jungs ins Stadion gehe.

Der Fußball hat sich verändert. Manch einer hat sich emotional in den letzten Monaten und Jahren von diesem Spektakel entfernt. Die Zeiten, in denen Fußballer nach der Partie noch wie selbstverständlich mit ihren Fans in der Kneipe standen, sind lange vorbei – im Allgemeinen. Umso mehr freuten sich Anhänger des VfL Bochum am Wochenende, als plötzlich auf der Reeperbahn die Tür aufging und sie in die Gesichter einiger Profis blickten.

Es sind diese seltenen Momente, die zeigen, was verloren gegangen ist. Ein Stück Ursprünglichkeit, Nähe und Spontanität. Wenn Fußballprofis wieder zu Menschen werden, wird aus dem Geschäft wieder ein Spiel. Und das tut gut. Denn am Ende ist eins gewiss: Es ist nur Fußball!

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Quelle: ntv.de

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