Fußball-WM 2018

WM-Analyse mit Hickersberger "Da sehnt man ein gnädiges Ende herbei"

Den Brasilien-Fans verging während des Spiels die Lust an der WM.

Den Brasilien-Fans verging während des Spiels die Lust an der WM.

(Foto: dpa)

So ungläubig wie die gesamte Fußballwelt erlebt auch WM-Experte Josef Hickersberger den deutschen 7:1-Rausch gegen Brasilien. "Das hätte ich für nicht möglich gehalten. Und ich kann es noch immer kaum glauben", sagte der frühere österreichische Nationaltrainer in der WM-Analyse mit n-tv.de. Hickersberger prophezeit, dass Brasilien Jahrzehnte an dieser "sportlichen Katastrophe von unvorstellbarem Ausmaß" knabbern wird. Und dass die Löw-Elf jetzt reif ist für den WM-Titel.

(Foto: imago sportfotodienst)

n-tv.de: Der Engländer Gary Lineker hat über das Halbfinale getwittert, es war das atemberaubendste und verwirrendste Spiel, das er in 50 Jahren jemals gesehen hat. Was sagt der Österreicher Josef Hickersberger?

Josef Hickersberger: Ich kann mich an kein Spiel erinnern, das so einen spektakulären Verlauf genommen hat wie das in Belo Horizonte. Dass Deutschland in Brasilien gegen Brasilien in einem WM-Semifinale eine so überzeugende Leistung bringen kann und einen WM-Favoriten mit einem historischen Sieg so auseinandernimmt, das hätte ich für nicht möglich gehalten. Und ich kann es noch immer kaum glauben, obwohl ich es gestern gesehen habe.

Wie sehr kann man es als Österreicher überhaupt genießen, wenn ausgerechnet den Piefkes so ein Fußballspiel gelingt?

Ach, Herr Wolf, Sie überschätzen die Rivalität zwischen Österreich und Deutschland. Wir Österreicher freuen uns, das haben auch Untersuchungen gezeigt, über Erfolge deutscher Mannschaften in der Champions League und des Nationalteams viel mehr, als man sich das in Deutschland vorstellen kann.

Sie haben Joachim Löw als jungen Trainer in Österreich erlebt. Hätten Sie sich vorstellen können, dass er einmal mit dem DFB-Team in einem WM-Halbfinale in Brasilien 7:1 gegen Brasilien gewinnt?

Nein, so etwas kann sich kein vernünftiger Mensch vorstellen. Wer sich so etwas hätte vorstellen können und das auch der Öffentlichkeit erzählt hätte, der wäre in eine Irrenanstalt eingeliefert worden.

Was geht in einem Trainer in so einem Spiel vor, in dem der eigenen Mannschaft einfach alles gelingt?

In erster Linie wird Jogi Löw eine große Erleichterung nach der frühen Entscheidung gespürt haben und die Bestätigung, dass der taktische Plan aufgegangen ist. Es hat mir imponiert, wie Deutschland die offenen Räume der Brasilianer genutzt hat. Und natürlich wird er während des Spiels auch Stolz auf seine Mannschaft verspürt haben. Für mich war bezeichnend, dass in der zweiten Hälfte in Brasilien gegen die brasilianische Nationalmannschaft bei deutschen Passfolgen "Ole, ole"-Rufe laut wurden. Das ist so etwas wie Summa cum laude für eine gegnerische Mannschaft. Das muss eine unvorstellbare Auszeichnung für die deutschen Spieler gewesen sein, die höher nicht hätte ausfallen können.

Warum ist der Matchplan von Brasiliens Weltmeistertrainer Felipe Scolari nicht aufgegangen?

Felipe Scolari wollte seine Mannschaft vor dem Spiel mit der Aussage "Jeder von uns muss ein bisschen Neymar sein" motivieren. Dieser Schuss ist nach hinten losgegangen. Ich hatte den Eindruck, jeder will wie Neymar spielen. Jeder nimmt den Ball und rennt ohne Absicherung, ohne taktische Disziplin, ohne Ordnung nach vorne. Bei der Art Fußball ist die Gefahr von Kontern sehr groß, und genau das ist dann passiert. Deutschland hat diese Spielweise der Brasilianer gnadenlos ausgenutzt und auch in der Höhe hochverdient gewonnen.

Wie sehr sehnt man als Trainer bei so einem Verlauf der ersten Halbzeit die Pause herbei?

Da sehnt man nicht nur die Pause herbei, sondern vor allem ein gnädiges Ende. Wenn man mit einem 0:5-Rückstand in die Pause geht, vor allem in einem WM-Semifinale im eigenen Land, und man weiß, man kann nur noch Schadensbegrenzung betreiben, da liegt eigentlich alles schon in Trümmern.

Muss man seine Spieler als Trainer nach so einer Halbzeit zwingen, wieder zurück auf den Rasen zu gehen?

Ich kann mich in solche Situationen selbst als früherer österreichischer Nationaltrainer nicht hineinversetzen. Es ist eine unmenschliche Aufgabe für einen Trainer, in so einer Situation erstens die richtigen Worte zu finden und zweitens etwas zu ändern. Felipe Scolari ist das noch sehr gut gelungen. Es war bemerkenswert, mit welch guter Moral Brasilien nach der Pause zurückgekommen ist und versucht hat, einen Treffer zu erzielen. Aber es bleibt ein traumatisches Erlebnis. Nicht einmal seinen ärgsten Feinden wünscht man da, Felipe Scolari zu sein.

In anderen Sportarten gibt es Auszeiten, um einen gegnerischen Spielrausch wie den vom DFB-Team zu unterbrechen. Braucht es die künftig auch im Fußball?

In diesem Fall hätte auch eine Auszeit nicht mehr geholfen, da sind schon alle Dämme gebrochen. Der David Luiz hatte für mich als Kapitän das sinkende Schiff schon verlassen gehabt. Selbst mit mehreren Auszeiten wäre da nichts mehr zu retten gewesen.

Sie haben vor dem Spiel psychologische Trotzeffekte bei den Brasilianern erwartet. Welche Effekte haben Sie beobachten können?

Also diese "Jetzt erst recht"-Situation hat Brasilien vollkommen überfordert. Ich glaube aber, dass Brasilien auch mit Neymar und Thiago Silva an so einem Tag keine Chance gehabt hätte. Nach dem 0:2 war das Spiel gelaufen. Es war offensichtlich, dass die brasilianische Mannschaft unter diesem Schock so gelitten hat, dass es kein Comeback in diesem Spiel mehr geben konnte.

Hat man als Gegner während des Spiels Mitleid, wenn einem selbst alles gelingt, den anderen gar nichts und die Zuschauer auf den Rängen reihenweise Weinkrämpfe bekommen?

Das blendet man vollkommen aus. Es macht sich eher der Gedanke breit, beim Spielstand von 5:0 keine Verletzungen mehr zu riskieren. Aber Mitleid mit dem Gegner oder auch den Zuschauern verspürt man sicher nicht.

Vor dem Halbfinale haben Sie gesagt, Sie würden – wenn Sie wählen könnten – Brasilien übernehmen. Was hätten Sie Ihrem Team nach dem Schlusspfiff in Belo Horizonte gesagt?

(Seufzt) Das Leben geht weiter.

Ist das so einfach? Scolari und die Spieler meinten unisono, "es war der schlimmste Tag meines Lebens". Was bedeutet dieses Spiel für Brasilien und für die Aufarbeitung des Maracanazo-Traumas von 1950?

Jetzt ist ein noch schlimmeres Trauma entstanden, das ist ein historisches Debakel. Im WM-Semifinale im eigenen Land die höchste Niederlage zu erleiden, die es je in der Geschichte des Fußballs gegeben hat, das ist eine sportliche Katastrophe von unvorstellbarem Ausmaß für den fünffachen Weltmeister. Das war ein kollektives Versagen. Das dauert Jahrzehnte, bis das verarbeitet ist.

Vorher im Turnier hatte Löw die Chancenverwertung gerügt. Gegen Brasilien waren nun selbst Chancen drin, die schon vertändelt schienen, wie beim 2:0 und 3:0. War das das perfekte Spiel?

Das wird es wahrscheinlich nie geben. Aber das kam dem perfekten Spiel schon sehr nahe. Mit einer Ausnahme: Mesut Özil hätte noch das 8:0 machen müssen. Aber sonst war es ein so effizientes Spiel, wie man es sich als Trainer und als Spieler nicht anders wünschen kann. Davon gibt es einem Turnier allerdings nicht viele.

Wer hat Ihnen am besten gefallen im deutschen Team?

Toni Kroos. Nicht nur wegen seiner zwei Tore, auch wegen seiner Passsicherheit. Er ist für mich einer der konstantesten Spieler bei der WM. Sami Khedira war auch hervorragend. Unglaublich, wie gut er sechs Monate nach einem Kreuzbandriss in diesem Spiel war. Auch die rechte Seite mit Philipp Lahm hat mir imponiert. Es hat keinen schwachen Punkt gegeben im DFB-Team, sonst wäre so ein Resultat nicht möglich geworden.

Wie wichtig war die Umstellung der deutschen Taktik für den Formsprung seit dem Krampf gegen Algerien?

Es war eine sehr gute Entscheidung. Durch die Umstellung sind nicht mehr vier Innenverteidiger auf dem Platz, so kann man dann schon Weltmeister werden. So wie Deutschland jetzt spielt, ist das Spiel nach vorne mit Lahm als rechtem Außenverteidiger viel besser geworden. Auch, weil Khedira und Schweinsteiger im zentralen Mittelfeld sehr gut miteinander harmonieren.

Im Halbfinale wird man nicht Weltmeister, auch wenn man 7:1 gewinnt. Ist die deutsche Mannschaft jetzt trotzdem der große Favorit auf den Titel – und kann Sie mit dieser Rolle umgehen?

Unabhängig vom Ausgang des anderen Semifinales zwischen Argentinien und Holland ist das jetzt so. Das Wichtigste ist jetzt, sich auf die Regeneration zu konzentrieren und das Spiel einfach abzuhaken. Das Finale beginnt bei 0:0. Der letzte Schritt zum Gipfel wird der Schwierigste sein. Die Spieler werden erst mit dem zeitlichen Abstand von Wochen begreifen, was ihnen im Halbfinale eigentlich gelungen ist.

Was unterscheidet das DFB-Team von der Selecao, die unter dem Druck zusammengebrochen ist?

Ich glaube, die emotionale Belastung der Brasilianer, diese unrealistische Erwartungshaltung, das war kaum zu ertragen. Deutschland kann mit der Favoritenrolle viel besser umgehen und es ist auch leichter. Dass die Mannschaft schon lange mit dem Bundestrainer zusammenarbeitet, ist im Finale ein ganz großer Bonus. Das Team scheint jetzt so gefestigt, dass jeder einzelne Spieler an den WM-Titel glaubt. Den lassen sie sich nicht mehr nehmen.

Es ist davon auszugehen, dass der Trainerposten bei der Selecao jetzt frei wird. Stünden Sie als Wiederaufbauhelfer bereit?

Ich fürchte, das wäre eine Nummer zu groß für mich. Mit diesem Erwartungsdruck umzugehen, dafür bin ich ganz einfach mit 66 Jahren nicht mehr jung und fit genug.

Mit Josef Hickersberger sprach Christoph Wolf

Quelle: ntv.de

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