Vom Wembley-Tor bis nach Brasilien Das verrückte WM-Dutzend des Werner Weih
25.06.2014, 14:48 Uhr
Werner Weih verpasste seit 1966 nur die WM 2006 in Deutschland. Ausgerechnet.
Wembley-Tor, Schmach von Cordoba, Final-K.o. gegen Diego Maradona: Werner Weih hat fast alle deutschen WM-Sternstunden live im Stadion erlebt. Angefangen hat alles 1966 in England - 48 Jahre später jubelt der Bielefelder in Brasilien.
Ob er hier in Brasilien wirklich bei seiner zwölften WM dabei ist? Werner Weih sitzt im Hotel in Recife und lacht: "Das hat Ihnen jemand erzählt? Das glauben Sie?" Dann kramt er auch schon in seiner Jackettasche nach dem Beweis, einem Zeitungsartikel aus einer Bielefelder Lokalzeitung. Ein Schwarzweißfoto zeigt ihn als World Cup Willie, als Maskottchen in England. Das war 1966. Da hat alles angefangen mit Werner Weih und den Fußball-Weltmeisterschaften.
48 Jahre später macht der Bielefelder nun in Brasilien sein Dutzend voll. Die Frage nach seiner schönsten WM, seinem schönsten Spiel, kann er nicht beantworten. Er könnte ja soviel erzählen, "tolle Geschichten", und das ist nicht mal übertrieben. Das Wembley-Tor 1966, Deutschlands Jahrhundertspiel gegen Italien 1970 in Mexiko, Sparwassers Treffer für die DDR 1974, wenig später der zweite deutsche WM-Triumph in München, die Schmach von Cordoba 1978, die Schande von Gijon vier Jahre später, der Final-K.o. 1986 gegen Diego Maradonas Argentinier. Denkwürdige, atemberaubende, unvergessliche Spiele. Für Werner Weih sind sie erlebte Geschichte. Der 78-Jährige war immer im Stadion dabei.
Seine Fußballweltreisen haben ihn auf drei Kontinente geführt, nach Asien, Nordamerika und Südamerika. "Durch den Fußball", sagt er, "habe ich Land und Leute kennengelernt." Geplant war das 1966 nicht. Nach England ist Werner Weih aus einer Laune heraus gefahren. Bundesliga mit seinem Herzensklub Borussia Dortmund, Länderspiele, das hatte er alles gesehen. "Dann kam der Gedanke: Jetzt fehlt eigentlich nur noch die Weltmeisterschaft. Und da habe ich mich dann kurzfristig entschlossen: Einmal nach England, Wembley, und da mal richtig die WM erleben."
Herberger: "Ist schon gut mein Junge."

Tor oder nicht Tor im Finale Deutschland gegen England bei der WM 1966?
(Foto: picture alliance / dpa)
Vier Wochen blieb er, sah alle deutschen Spiele. Zu seinem 31. Geburtstag schenkte ihm das DFB-Team einen 2:1-Halbfinalsieg über die UdSSR, wie er sagt. Ob der Schuss von Geoff Hurst im Fina le in Wembley drin war oder nicht, kann auch Augenzeuge Werner Weih nicht auflösen. "Da saß ich zu weit weg. Es war natürlich schade drum." Nach dem verpassten Titel wollte er Bundestrainer Helmut Schön trösten. Zu Schön schaffte er es nicht, aber zu seinem Vorgänger Sepp Herberger, dem Weltmeistertrainer von 1954. "Ich sagte: Herr Herberger, alles vergänglich, nicht so schlimm." Herberger habe nur geantwortet: "Ist schon gut mein Junge."
Vor dem Turnier in England hatte er sich im Kaufhaus in Bielefeld noch ein T-Shirt fürs Stadion beflocken lassen: "Werner Weih - Deutschland wird Weltmeister". Nach Platz zwei in Wembley habe er dann gedacht: "Das kann's nicht sein, du musst weitermachen." Er hat weitergemacht und wenn er sich doch festlegen müsste auf seine schönste WM: Mexiko 1970, als er Franz Beckenbauer traf, "die war super". Werner Weih und WM, das war plötzlich untrennbar, und sein original Weltmeister-Shirt war immer dabei. 1974 in München fühlte er sich nach dem Schlusspfiff dann "selbst wie ein Weltmeister". Auch in Brasilien zieht es der 78-Jährige, sonst immer im Anzug unterwegs, im Stadion über sein Hemd.

Argentinien gewinnt das WM-Finale gegen Deutschland 3:2 und Diego Maradona schreit seine Freude heraus.
(Foto: picture alliance / dpa)
Am Anfang ist er auch noch zu jeder Europameisterschaft gefahren. Der Triumph 1972 in Brüssel, der Elfmeter von Uli Hoe neß in den Nachthimmel von Belgrad 1976. Werner Weih aus Bielefeld hat im Stadion mitgefeiert und mitgelitten. Nach acht Turnieren war dann Schluss mit EM. Der Fußballreisende kannte die Ausrichterländer schon alle. Für die Turniere frei zu bekommen war nie ein Problem. Der Besitzer des Hotels, in dem er arbeitete, war ein ehemaliger Arminia-Profi. Fußballurlaub für den Chefportier war da Ehrensache: "In diesem Fall war er großzügig, sonst nicht." Und seine Frau? "Sie ist nie mitgekommen. Sie hat gesagt: Fahr du mal, das ist mir lieber als wenn du hier sitzt und rumnörgelst."
Mittendrin in Hooligan-Ausschreitungen
Bei den Weltmeisterschaften war er zunächst immer bis zum Finale, sechsmal hintereinander. Gerissen ist seine Serie erst 1990 in Italien. "Da kriegte ich Zahnschmerzen und hatte kein Vertrauen, in Italien zum Arzt zu gehen." Also fuhr er vorzeitig mit dem Zug zurück nach Deutschland. Mit zwei Zähnen weniger feierte er den Rest des Turniers und Deutschlands dritten Weltmeistertitel in seinem Schrebergarten. Bei jeder Partie hisste er die Flaggen der jeweiligen Teams.
Werner Weih kann viele Geschichte erzählen. Zum Beispiel, wie er sich 1982 in Spanien selbst zum "König Fußball" krönte. In seiner Reisegruppe gab es einen Wettstreit um das ausgefallenste Kostüm. Aus einem alten Fußball und einer kleinen Blechtrommel bastelte er sich eine Krone, mit einer Nagelschere schnitt er im Hotel die Zacken aus. "Das war ganz harte Arbeit." Sie hat sich gelohnt, di e Krone hat er immer noch, sie ist mit nach Brasilien gereist – auch wenn er das erste Spiel als "König Fußball" in schlechter Erinnerung behalten hat. Es war das Skandalspiel gegen Österreich 1982 in Gijon.
1998 in Frankreich geriet er in die Ausschreitungen deutscher Hooligans, die den französischen Polizisten Daniel Nivel fast totschlugen. Mit einer Beinverletzung musste er nach Hause. Sechs Monate dauerte es, bis er wieder gesund war. 2002 in Japan und Südkorea hatte er zunächst nur bis zum Achtelfinale gebucht. Obwohl er unbedingt verlängern wollte, musste er nach Deutschlands 1:0 über Paraguay heim nach Bielefeld. Als er gerade zuhause angekommen war, klingelte das Telefon. Der Reiseveranstalter. Kurzfristig hätte sich doch noch die Möglichkeit ergeben, beim deutschen Viertelfinale dabei zu sein. Interesse, Herr Weih? Über 40 Stunden Flug für 90 Minuten WM-Fußball, das war dann aber selbst einem Fußballverrückten wie ihm zu viel.
Weih hätte Özil zuhause gelassen
Zu den unglaublichen Geschichten des Werner Weih gehört auch, dass er 2006 in Deutschland kein Spiel im Stadion gesehen hat. Wie das passieren konnte, ausgerechnet bei der Heim-WM? "Ja, das frage ich mich heute noch." Obwohl er "wirklich alles versucht habe", sogar den Deutschen Fußball-Bund und die Fifa anschrieb, bekam er keine Karten. Am Spieltag auf gut Glück zum Stadion gehen wie früher, das wollte er mit 70 Jahren nicht mehr. Deutschland 2006 zählt er bei seinem WM-Dutzend nicht mit.
Für Brasilien hat er ein halbes Jahr vor Turnierstart das Ok von seinem Arzt bekommen, gebucht hat er die drei Vorrundenspiele. Die Reise findet er bisher "wunderbar", das DFB-Team weniger. "Ich habe von vornherein gesagt: Deutschland kommt nicht weit. Das ist noch keine richtige Mannschaft, die zusammengewachsen ist." Mesut Özil hätte er gar nicht erst mitgenommen.
In Salvador und Fortaleza hat Werner Weih alte Bekannte von früheren Weltmeisterschaften wiedergetroffen: "Einer hat mich angesprochen im Stadion: Ach, auch wieder dabei? Da habe ich gesagt: Mensch, ich dachte du lebst gar nicht mehr." Das Sparwasser-Tor ist neulich 40 Jahre alt geworden. Werner Weih feiert kurz nach dem Turnier seinen 79. Geburtstag. Die Hitze-WM 2022 in Katar, "das werde ich wohl nicht mehr schaffen". Russland 2018 ist aber fest eingeplant. Mit 82 Jahren will Werner Weih dann seine 13. Weltmeisterschaft erleben. WM-Shirt und Krone wird er dabei haben.
Quelle: ntv.de