Fußball-WM 2018

"Politisches Territorium erobert" Argemiros Kampf gegen den Fifa-Kommerz

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(Foto: Argemiro Ferreira Almeida)

Die WM kostet Brasilien Milliarden und bringt der Fifa Milliarden ein. Einer, der sich gegen den Wahnsinn wehrt, ist Argemiro Almeida. Seine Aufklärungsarbeit ist anstrengend und anrührend - ein Kampf gegen Windmühlen.

Wie protestiert man gegen eine Fußball-WM in einem fußballverrückten Land? Argemiro Almeida hat gebastelt. Bevor Deutschland am 16. Juni in Salvador da Bahia auf Portugal traf, stand er mit seiner Frau Vanessa im historischen Stadtzentrum und verteilte Papierblumen. An Fußballfans, an Touristen. An alle, die ins Gespräch kommen wollten über die Botschaften an den kleinen Kreppblüten. Botschaften wie: "Alle zahlen Steuern. Warum zahlt die Fifa nicht?"

Mit seinen kantigen Gesichtszügen, dem Backenbart, den halblangen Haaren ähnelt Argemiro Almeida der vor zweieinhalb Jahren gestorbenen Fußballlegende Sócrates. Der bewegte die Massen mit seiner Spielkunst. Argemiro will sie als Aktivist mobilisieren. Auch wenn er nicht gerade die Massen erreicht: Seit vier Jahren engagiert er sich im Volkskomitee von Salvador gegen die Fifa-WM und für die Bürgerrechte der Brasilianer. In São Paulo ist er außerdem als Filmemacher in einem Kommunikationsnetzwerk für soziale Bewegungen aktiv. 2013 war er nach Deutschland eingeladen, um über seine Arbeit zu berichten. Es nicht leicht, während der WM ein Treffen mit Argemiro zu vereinbaren.

Gerade hat der 50-Jährige mit seiner Kamera noch die Situation von Prostituierten in Salvador dokumentiert. Jetzt sitzt der studierte Philosoph in blauen Shorts und rotem T-Shirt unweit des "Gebrochenen Kreuzes" im Stadtzentrum und sagt: "Fußball sollte dem Volk gehören und nicht der Fifa." Deshalb die Papierblumen. Sie sollen Leute in einen "kritischen Diskurs" einbinden, "die vielleicht vorher noch gar nicht daran gedacht haben, dass die WM nicht nur Gutes bringt - sondern auch schlechte Seiten".

"Hier kommt Neymar, ihr müsst sein wie Neymar"

Welche, stand auf kleinen Zetteln an den Stielen, auf Deutsch, Englisch und Portugiesisch. "Für Fußball, gegen die Kriminalisierung von sozialen Bewegungen." Oder: "Willkommen in Brasilien! Wussten Sie, dass für die WM über 250.000 Leuten mit der Vertreibung aus ihren Häusern gedroht wurde?" Oder: "Brasilien ist das Land des Fußballs. Für exklusive Stadien wurden Unsummen ausgegeben. Doch wo sind öffentliche Sportplätze, die alle nutzen können?"

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(Foto: Argemiro Ferreira Almeida)

Sie sind verschwunden, beanwortet Argemiro die letzte Frage selbst: "Es gab mal eine olympische Schwimmhalle in Salvador. Es gab mal eine riesengroße Sporthalle, die auch für Unterricht genutzt wurde. Es gab einfach viel Raum für andere Sportarten." Und jetzt? "Gibt es dieses eine Fifa-Stadion. Aber alles andere fällt hinten runter." Es gehe nur um Fußball und um die Leute, die ihn sich leisten können. Einer seiner Freunde lebt direkt an der Arena Fonte Nova. Das Geld, sich eines der sechs WM-Spiele in Salvador anzuschauen, hat er nicht.

Schuld daran ist für Argemiro nicht nur der Fußball-Weltverband. Der hat den Fußball zu einer Ware gemacht, verdient in Brasilien steuerfrei Milliarden, er vermittelt irrwitzige Bilder wie: "Hier kommt Neymar, ihr müsst sein wie Neymar." Aber, sagt Argemiro: "Die brasilianische Regierung hat an diesen kranken Kommerz der Fifa geglaubt. Sie haben da mitspielen wollen und gedacht, wir holen uns auch die großen Fische raus." Wie groß die Fische waren? "Wenn man zu den Verkäufern geht, wenn man die Leute, die hier wohnen, fragt, dann werden die euch wahrscheinlich antworten, dass die keinen Gewinn gemacht, sondern nur Verluste eingestrichen haben."

Zu wenige Argemiros

Darüber will Argemiro informieren, dagegen will er protestieren, deswegen geht er auf die Straße, deswegen sollen viele andere mitgehen. "Super überrascht" habe ihn vor allem die positive Reaktion der deutschen Fans auf die Papierblumen. Dass seine Frau Deutsche ist, habe die Kontaktaufnahme zwar erleichtert. Trotzdem seien die Fans vergleichsweise informiert und interessiert gewesen. Das dürfte auch an der intensiven medialen Begleitung der Proteste in Deutschland gelegen haben. Wer im letzten Jahr aus Deutschland nach Brasilien schaute, der konnte den Eindruck gewinnen: Es gibt viele Argemiros in Brasilien, ziemlich viele. In der 2,5-Millionen-Stadt Salvador nahmen an den Sitzungen des Volkskomitees im Schnitt zuletzt noch zwölf Leute teil.

Vor dem Deutschland-Spiel am Montag wollte das Volkskomitee eigentlich eine Demonstration veranstalten, für die Transparenz öffentlicher Ausgaben. "Wir wollen wissen, wofür unser Geld ausgegeben wird", so sollte das Motto sein. Bei einem Krisentreffen am Sonntag wurde sie kurzfristig abgesagt. Zu wenige Argemiros waren übriggeblieben, auch wegen der gewalttätigen Ausschreitungen bei früheren Protesten. Stattdessen bastelte Argemiro mit seiner Frau die Blumen.

"Wir haben ein politisches Territorium erobert"

Wenn Argemiro von seiner Aufklärungsarbeit erzählt, tut er das warmherzig, mit Verve, Überzeugung. Die Arbeit ist anstrengend, kleinteilig, wirkt wie ein Kampf gegen Windmühlen. Sichtbar waren die Protestaktionen des Volkskomitees in der Stadt nicht.

Argemiro verweist auf die Erfolge, er sagt: "Wir haben ein politisches Territorium erobert und sind in einen Bereich vorgedrungen, der vorher noch nicht wirklich von der Stimme des Volkes mitbeeinflusst wurde." Das Komitee habe viele Papiere zusammengetragen, Zahlen, Fakten, die für die Nachwelt dokumentiert wurden, die aufgearbeitet werden können. Wenn er sich mit Leuten aus Salvador unterhalte, merke er: Der Protest ist im Volk angekommen. "Copa pra quem?", heißt es dort: WM für wen? Brasilien habe ein Beispiel in die Welt getragen, die Botschaft lautet: "Wir sind nicht die, die sich von anderen etwas aufhalsen lassen. Wir wollen auch mitbestimmen. Knüpft doch an unseren Kampf mit an."

Die Aktion mit den Papierblumen, erzählt Argemiro zum Schluss, sei ein Erfolg gewesen. Viele Fans hätten versprochen, bei einem Tor im Stadion die Blumen hochzuhalten. 120 hatten seine Frau und er in der Nacht vor dem Spiel noch basteln können. Im Stadion Fonte Nova waren am Montag mehr als 51.000 Menschen.

Quelle: ntv.de

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