Brasiliens Mythos Straßenfußball Auf der Suche nach dem spontanen Spiel
11.06.2014, 13:19 Uhr
Ein Ball, eine Straße, ein paar Jungs - so sieht das Bild vom Straßenfußball in Brasilien aus.
(Foto: REUTERS)
Glaubt man den Bildern aus Brasilien, spielen nahezu überall auf Straßen oder an Stränden Kinder barfuß Fußball. Kein Bericht kommt ohne dieses Symbolbild für die brasilianische Leidenschaft aus. Aber das Bild stimmt so nicht.
Dank Straßenfußball bin ich der geworden, der ich bin, schrieb einst Zico - der große Regisseur der vielleicht besten, aber ungekrönten Selecao der siebziger und achtziger Jahre. Der heute 61-Jährige beschreibt seine Nachmittage zwischen Bordsteinkanten und Wänden, auf Kopfsteinpflaster oder Dreck: "Barfuß, die Spitze des großen Zehs oft aufgesprengt. Es tat weh, hob die Haut hoch, blutete, aber ich rannte und spielte weiter."
In einem Hinterhof in Itaquera, tief im sozial ärmeren Osten der Metropole São Paulo, kicken sich Vinicius und Ronaldo Rai auf einem kleinen eingezäunten Bolzplatz etwas unmotiviert die Bälle zu. Es ist Sonntagvormittag. Als die beiden Jugendlichen, 16 und 15 Jahre, an dem Platz ankamen, war er verwaist. Auch der Betonplatz ein paar Straßenecken weiter ist noch leer. Also warten Vinicius und Ronaldo Rai. Auf Mitspieler.
Es ist nicht mehr ganz so einfach, Fußball spielende Kinder in den Straßen der brasilianischen Metropolen zu finden. Caio Vilela ist geübt darin. Vilela, 44, dick verglaste Brille, ist Fotograf und hat sich auf Straßenfußball spezialisiert. Auf "peladas", wie es in Brasilien heißt. In 65 Ländern hat er sich schon auf die Suche des Wesens des Straßenfußballs gemacht. "Im Grunde ist es so, je ärmer die Gegend ist, desto mehr Straßenfußball findet man", sagt Vilela. Im Nordosten Brasiliens, in den afrikanisch geprägten Bundesstaaten, ist er deutlich sichtbarer als im Süden, in den europäisch beeinflussten Metropolen.
Bis die Sonne untergeht
Vilela findet den "peladas" überall, mit einer bewährten Methode: "Wenn ich neu in einer Stadt bin, suche ich als erstes nach einem Taxistand. Dort höre ich zu, wer der kommunikativste Fahrer ist und den bitte ich dann, mich zu Plätzen zu führen, wo Kinder Fußball spielen." Oftmals sind das kleine betonierte Bolzplätze oder lehmige Hinterhöfe, manchmal auch der Strand, nur selten offene Wiesen. "Und ab und an fahren sie mich auch zuerst zum örtlichen Stadion, aber das interessiert mich nicht." Im Gegensatz zu jedem anderen Brasilianer, den man fragt, hat Vilela keinen Lieblingsklub.
Vinicius hat sich dagegen festgelegt. Für ihn ist der FC São Paulo das Maß aller Dinge. Er besitzt zwei Trikots, Kopfkissen, Schlüsselanhänger, alles im Design des Vorzeigeklubs, der die beste Jugendausbildung des Landes hat. Ronaldo Rai, nach den zwei brasilianischen Fußballstars der neunziger Jahre benannt, hat es dagegen der FC Santos angetan. Die meisten Menschen in São Paulo halten zu Corinthians, dem Klub, der nach der Weltmeisterschaft das neue Itaquera-Stadion bespielen wird. Nur wenige Blocks entfernt von dem Ort, an dem am Donnerstag die Weltmeisterschaft eröffnet wird, hat sich mittlerweile Pedro, 13, zu den beiden älteren Jungs gesellt.
"Straßenfußball gibt dir Reflexe, kreative Freiheit, lehrt dich zu improvisieren, Lücken zu schaffen, dich zwischen Spielern zu positionieren, Tore zu machen." Schreibt Zico, wie viele der besten brasilianischen Fußballer auf der Straße ausgebildet - Garrincha, Cafu, Rivaldo.
Wer Straßenfußballer finden will, muss auf die Uhrzeit achten, verrät Fotograf Vilela. Spätnachmittags, ab halb fünf ist es gut, und dann, bis die Sonne untergeht. "Plätze wie diesen könnte ich überall finden", sagt Caio Vilela in Itaquera, "vor allem, wenn man eine Stunde aus São Paulo raus fährt." In den Metropolen selbst wurden die Plätze verdrängt. Urbanisierung, Immobilienbau, Wirtschaftswachstum. "Früher konnten wir überall auf den Straßen spielen, selbst vor zehn Jahren noch. Aber mittlerweile müssen wir uns mit den Autos und dem Verkehr messen, ständig müssen wir unterbrechen", erzählt der junge Student Everton aus der Stadt Sao José dos Campos. Er selbst spiele deshalb nicht mehr oft Fußball. Und wenn, dann geht er mit ein paar Freunden einmal die Woche auf einen öffentlichen Platz. Fünf Reais zahlt jeder dafür, ungefähr 1,50 Euro.
In den Städten ist der Fußball deutlich organisierter geworden, aus Beton an vielen Stellen Kunstrasen. In Rio de Janeiro verläuft die Aterro Campos Society mit gleich acht Plätzen hunderte Meter neben der Praia de Flamengo. Hier kickt abends eine Freizeittruppe, während auf einem Nachbarplatz Jugendmannschaften des beliebtesten Vereins in Rio trainieren. Die komplette Ausbildung hat sich enorm professionalisiert. Längst halten brasilianische Nachwuchsmannschaften nicht mehr nur dank ihrer Technik und Physis mit europäischen Gleichaltrigen mit. Nicht umsonst sind die gefragtesten Exporte heute Defensivspieler. Auch das Scouting findet mittlerweile flächendeckend statt, so dass kaum noch ein hochtalentierter Spieler auf den Straßen einer Favela oder im Amazonasgebiet unentdeckt bleibt.
"Es ist purer Fußball"
Auch wegen Caio Vilela, der in 150 Städten in allen 27 Bundesstaaten Straßenfußball fotografiert hat. "Ich schaue mir Fußball an wie eine Ballettaufführung, wegen der Schönheit der Bewegung." Als Vinicius, Ronaldo Rai und Pedro in ihren sozialen Wohnbau-Komplex zurückkehren, stürzt sich ein halbes Dutzend Jungs spontan auf den Ball. Vilela zückt noch ein letztes Mal die Kamera. Er hat sein Motiv gefunden.
Zico, trotz zunehmendem Alter und Knieleiden noch immer gerne am Ball, wirft, wo auch immer er ist, einen Blick auf die Bolzplätze – auch auf der Suche nach der möglichen neuen Nummer 10 der Selecao. "Straßenfußball war keine Verpflichtung, kein Druck, kein Geld. Es ist purer Fußball. Nur Spaß haben. Vielleicht ist das der Grund, warum ich mich an keinen einzelnen Kick erinnern kann. Oder irgendein Tor. Es müssen mehr als zweitausend gewesen sein, manche schöner als der Volleyschuss gegen Neuseeland bei der WM 1982. An was ich mich erinnere, sind all die Tore und der gesamte Fußball in meiner Kindheit als Ganzes."
Quelle: ntv.de