Die Brasilianer hadern mit der WM "Brot und Spiele" reichen nicht mehr
12.06.2014, 15:11 Uhr
(Foto: REUTERS)
Brasilien und Fußball - das ist eine lange und leidenschaftliche Geschichte. Ausgerechnet zur WM im eigenen Land ändert sich das. Das Turnier spaltet das Land. Unsere brasilianische Autorin fragt sich: Was ist passiert?
Als Brasilien 1994 nach langen Jahren wieder eine Fußball-Weltmeisterschaft gewann, wurde das groß gefeiert. Ich schätze: 95 Prozent der Brasilianer, die damals einen Fernseher besaßen, sahen zu, als Roberto Baggio den entscheidenden Elfmeter in den Himmel von Pasadena schoss und Brasilien zum vierten Mal Weltmeister wurde. Kurz darauf füllten sich die Straßen mit Menschen, die jubelten, herumsprangen und einander umarmten. Wenn irgendwann mal ein Wissenschaftler erforscht, wie Glück aussieht - die brasilianischen Straßen nach dem Gewinn einer Weltmeisterschaft wären wohl die perfekte Forschungsumgebung.
Eine Weltmeisterschaft bringt die Brasilianer auf eine Art zusammen, die normalerweise undenkbar wäre. Die großen gesellschaftlichen Unterschiede des Landes, die Klassenschranken, verlieren für einen Moment ihre Schärfe, weil alle mit derselben Mannschaft fiebern. Doch schon vorher ist die Atmosphäre unglaublich: Menschen hängen brasilianische Fahnen aus ihren Fenstern, kleben sie an Laternenpfähle oder malen sie auf die Straßen. Selbst die Gesichter werden grün und gelb geschminkt. Das Land hält inne, um sich die Spiele der Nationalmannschaft anzuschauen und gemeinsam zu jubeln. Kaum jemand kann sich dem entziehen.
Tränen der Freude
13 Jahre nach dem Gewinn der WM 1994 weinte ich vor Freude, als bekannt wurde, dass die Weltmeisterschaft 2014 nach Brasilien vergeben wurde. Millionen anderen Menschen ging es genauso. Ich erinnere mich noch ziemlich genau an diesen Moment: Ich saß damals in meiner Wohngemeinschaft und freute mich mit einem meiner zwei Mitbewohner. Der andere allerdings war weniger begeistert. Er sagte damals, dass er nicht glaube, dass dies die Chance auf einen ökonomischen Sprung nach vorn sei, für eine Verbesserung der Infrastruktur und anderer Dinge.
Damals konnte ich seinen Pessimismus nicht nachvollziehen. Die brasilianische Wirtschaft boomte, die Arbeitslosigkeit war gering, die Ungleichheiten nahmen langsam ab. Mir schien es der perfekte Zeitpunkt, um unsere Minderwertigkeitsgefühle gegenüber den großen Industrienationen abzulegen. Es ging nicht mehr darum, als Brasilianer "trotz aller Widrigkeiten" glücklich zu sein. Viele Menschen waren glücklich, weil sie glaubten, wir könnten dieses Elend nun hinter uns lassen und unsere Lebensumstände tatsächlich verbessern.
Seitdem haben sich viele Dinge geändert. Die Preise sind spürbar gestiegen, ein Einkauf im Supermarkt ist heutzutage wesentlich teurer als vor fünf Jahren. Wenn ich mit Menschen spreche, die die hohe Inflation der 1990er-Jahre erlebt haben, dann spüre ich ihre Angst, dass sich dieser Albtraum wiederholen könnte. Hatte mein skeptischer Mitbewohner doch recht?
Die allgemeine Unzufriedenheit gipfelte in den Massenprotesten, die im vergangenen Jahr während des Confederation Cups begannen. Ich glaube nach wie vor nicht, dass es bei den Demonstrationen vor allem um die Weltmeisterschaft und die damit verbundenen öffentlichen Ausgaben ging. Vielmehr hatten die Menschen begriffen, dass sie mit gemeinsamen Protesten etwas erreichen konnten. Die Unmengen an Geld, die für die WM ausgegeben wurden, waren dann nur noch der Auslöser. Schlagworte wie "Wir fordern Krankenhäuser und Schulen nach Fifa-Standard" zeigten, dass es eigentlich um viel ältere und grundsätzlichere Probleme ging: schlechte medizinische Versorgung und Schulbildung, vor allem aber die Korruption in der Politik.
Meiner Meinung nach wurde die brasilianische Gesellschaft nur deshalb durch die Proteste aufgerüttelt, weil sie mit einem wesentlichen Aspekt des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens verbunden waren: dem Fußball. Die Proteste zeigten, dass unsere Gesellschaft nicht so tolerant ist, wie wir es lange glaubten. Mit den Demonstrationen bewiesen wir unseren Politikern, den Menschen in anderen Ländern, aber vor allem uns selbst, dass wir weder naiv noch selbstzufrieden sind. Und: dass wir uns stattdessen unserer Probleme sehr wohl bewusst sind und nun Lösungen einfordern.
Eine gespaltene Gesellschaft
Inzwischen lebe ich nicht mehr in meinem Heimatland Brasilien. Aber ich frage regelmäßig Freunde, wie sie die Atmosphäre kurz vor der WM einschätzen. Sie erzählen mir, dass diese Weltmeisterschaft auf den Straßen eine andere, weniger elektrisierende Stimmung hervorrufe als frühere Turniere und dass sie auch selbst weniger Vorfreude empfinden würden.
Doch nicht nur das. Erstmals erlebe ich eine Spaltung der Gesellschaft - ausgerechnet bei einem Thema, das uns in der Vergangenheit immer zusammenschweißte. In den sozialen Netzwerken gibt es zwei verschiedene Bewegungen, die für die verschiedenen Positionen stehen: #naovaitercopa (es wird keine WM geben) und #vaitercopa (es wird eine WM geben).
Interessanterweise ist aber nicht nur das Land gespalten, auch die Menschen selbst sind hin- und hergerissen. In den Medien war von einer Identitätskrise der Brasilianer die Rede - in deren Mittelpunkt der Nationalsport Fußball stehe. Die Menschen fangen an, nicht nur die Bedeutung der Weltmeisterschaft zu hinterfragen, sondern auch, wie sehr Fußball ein Bestandteil unserer Kultur ist. Als Pelé etwa im vergangenen Jahr dazu aufrief, die Proteste zu beenden und stattdessen die Nationalmannschaft zu unterstützen, die er als "unser Land, unser Blut", bezeichnete, erntete er dafür viel Kritik.
Ohne Zweifel hängt dies mit der zunehmenden Unzufriedenheit über die Missstände zusammen, die bei den Protesten thematisiert wurden. Obwohl diese Weltmeisterschaft im eigenen Land stattfindet, ist die Stimmung weit von der Freude entfernt, die 1994 herrschte. Natürlich: Abhängig vom Abschneiden der brasilianischen Mannschaft kann sich die Stimmung noch verbessern. Aber eben auch weiter verschlechtern. Die Vorstellung, dass man mit "Brot und (Fußball-) Spielen" die Menschen beruhigen könne, schwindet.
Doch auch wenn erstmals viele Brasilianer den Fußball aus einer skeptischen Perspektive betrachten - er bleibt für die meisten eine nationale Leidenschaft. Die tiefe Liebe zum Fußball lässt sich nicht einfach verleugnen: Er ist Thema beim Smalltalk, er eignet sich, um Freunde mit den Erfolgen der eigenen Mannschaft aufzuziehen und er bringt nach wie vor Menschen zusammen, wenn die Nationalmannschaft spielt.
Deshalb hoffe ich auf eine schöne Weltmeisterschaft - und auf friedliche Proteste. Meiner Meinung nach können die Liebe zum Fußball und Gesellschaftskritik nebeneinander existieren. Die Spiele der Nationalmannschaft anzusehen und bei jedem Tor zu jubeln, schließt ja nicht aus, gleichzeitig bessere Krankenhäuser, Schulen und Verkehrsmittel zu fordern.
Milene Mendes de Oliveira wurde 1983 geboren. Sie studierte Englische Sprache in Ouro Preto im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. Seit Anfang 2013 lebt sie in Berlin. Sie promoviert derzeit an der Universität Potsdam im Fachbereich Anglistik.
Quelle: ntv.de