Fußball-WM 2018

WM-Analyse mit Hickersberger "Das war eine Ironie des Fußballs"

"Mit Abstand der beste deutsche Feldspieler": Torwart Manuel Neuer.

"Mit Abstand der beste deutsche Feldspieler": Torwart Manuel Neuer.

(Foto: imago/Fotoarena International)

Im WM-Achtelfinale erweist sich Außenseiter Algerien beinahe als Stolperstein für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Nur dank Keeper Manuel Neuer in "Überform" kann das DFB-Team die Blamage in Grenzen halten, analysiert WM-Experte Josef Hickersberger bei n-tv.de. Der frühere österreichische Nationalcoach lobt Neuers Spielweise als einmalig in der Fußballgeschichte und kann sich nicht erinnern, bei einer WM schon einmal eine so schlechte erste Halbzeit des DFB-Teams gesehen zu haben. Die Verbal-Rüpelei von Per Mertesacker nach dem Spiel findet Hickersberger unprofessionell - aber absolut verständlich. Den deutschen WM-Titel hat er noch lange nicht abgeschrieben.

n-tv.de: Herr Hickersberger, Joachim Löw gilt als Meister des Matchplans. Welchen taktischen Plan haben Sie in der ersten Halbzeit gegen Algerien erkannt?

Zwischen 1987 und 1990 sowie zwischen 2006 und 2008 war Josef Hickersberger Trainer der österreichischen Nationalmannschaft. In Brasilien ist er als WM-Experte vor Ort.

Zwischen 1987 und 1990 sowie zwischen 2006 und 2008 war Josef Hickersberger Trainer der österreichischen Nationalmannschaft. In Brasilien ist er als WM-Experte vor Ort.

(Foto: imago sportfotodienst)

Josef Hickersberger: In den ersten 35 Minuten konnte man keinen Plan der deutschen Nationalmannschaft erkennen, oder der Plan hat überhaupt nicht funktioniert. Algerien hat mit aggressivem Mittelfeldpressing das Aufbauspiel der deutschen Mannschaft frühzeitig gestört. Es kamen dann zu allem Überdruss noch leichte, unerzwungene Abspielfehler dazu, so dass von einem taktischen Plan eigentlich wenig zu sehen war.

Ist Löw vom algerischen Trainer Vahid Halilhodzic taktisch ausgekontert worden?

Der Matchplan der Algerier war klar erkenntlich. Algerien wollte Bälle frühzeitig erobern und dann mit steilen Pässen in die Tiefe gegen die deutsche Abwehr schnell auf Angriff umschalten. Das ist überraschend auch hervorragend umgesetzt worden - natürlich unterstützt von der wirklich konfusen Tagesform der deutschen Nationalmannschaft, besonders in den ersten 35 Minuten. Ohne einen Manuel Neuer in Überform hätte dieser Plan auch zu Toren geführt.

Wie erklären Sie sich die ersten 35 Minuten aus deutscher Sicht?

Ich glaube, Jogi Löw hat genug gewarnt vor Algerien. Das ist die bestplatzierte afrikanische Mannschaft im Fifa-Ranking. Aber im Unterbewusstsein hat das DFB-Team Algerien doch etwas unterschätzt. Sonst kann ich mir das nicht erklären, dass die deutsche Nationalmannschaft eine so schlechte Leistung bringt.

Können Sie sagen, wann Sie eine deutsche Mannschaft bei einer WM zuletzt hilfloser gesehen haben?

Ich kann mich nicht erinnern, dass Deutschland einmal bei einer Weltmeisterschaft eine so schlechte erste Spielhälfte gespielt hat. Vielleicht liegt es an beginnender Demenz. (lacht)

Haben Sie zwischendurch das Ausscheiden des DFB-Teams befürchtet?

Bis zur Pause war das durchaus im Bereich des Möglichen. Nur hat dann Jogi Löw wieder einen ausgezeichneten Wechsel vorgenommen. Mit Andre Schürrle ist Tiefe und Vertikalität ins Spiel der deutschen Mannschaft gekommen. Das hat sich sofort bemerkbar gemacht, Deutschland war in der zweiten Spielhälfte klar die bessere Mannschaft. Gegen Ende der 90 Minuten war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis eine der Großchancen zu einem Tor führen würde. Auch weil die Kräfte der Algerier sichtbar nachließen und das Pressing nicht mehr so durchgeführt werden konnte. Es war schon überraschend, dass es überhaupt zur Verlängerung kam.

Auch gegen Ghana haben Sie die Wechsel von Joachim Löw gelobt. Hat er mit seinem Coaching gegen Algerien endgültig die Kritik widerlegt, eine Partie nach dem Anpfiff taktisch nicht mehr korrigieren zu können?

Den Ruf hat er für mich mit der Einwechslung von Schürrle und der Rücknahme von Philipp Lahm auf die Position des rechten Außenverteidigers sehr wohl widerlegen können. Es war klar ersichtlich, dass diese Umstellungen auch das Spiel gedreht haben. Das war bestimmt auch gutes Coaching, dass Deutschland das noch gelungen ist.

Das 1:0 hat Schürrle per Hacke erzielt. Demoralisiert das einen Gegner zusätzlich, wenn man so ein Tor kassiert?

Das schließe ich völlig aus. Der Rückstand ist demoralisierend, wenn bis zu diesem Zeitpunkt die eigene Taktik perfekt aufgeht und man als Spieler das Gefühl hat, das Spiel ist zu gewinnen. Dann kommt man plötzlich in Rückstand, das ist deprimierend. Die Art und Weise, wie das Tor fällt, ist mehr oder weniger nebensächlich.

DFB-Keeper Manuel Neuer war gegen Algerien im Dauereinsatz außerhalb des Strafraums und phasenweise der beste deutsche Feldspieler …

(unterbricht die Frage) Er war mit Abstand der beste deutsche Feldspieler und ohne Manuel Neuer in dieser herausragenden Form hätte Deutschland dieses Spiel wahrscheinlich in der ersten Spielhälfte verloren.

Haben Sie eine vergleichbare Torwartleistung in Ihrer Karriere schon einmal erlebt?

Die Torwartrolle in dieser Form kann nur Manuel Neuer so perfekt spielen. Ich kenne keinen anderen Torhüter, auch in der Geschichte des Fußballs, der einen so guten Libero hinter der Abwehr spielen kann.

Sie loben Neuers Libero-Spiel. Ex-DFB-Keeper Oliver Kahn hat moniert, dass es in der ersten Halbzeit phasenweise Harakiri war. Spielt Neuer zu riskant?

Ich finde, dass die Rolle nicht besser interpretiert werden kann. Wenn die deutsche Abwehr sehr hoch steht und dann in Laufduellen mit schnellen Sturmspitzen Probleme bekommt, kann sie sich immer auf Manuel Neuer verlassen. Besser geht es nicht. Ob das riskant ist? Natürlich ist eine solche Spielweise riskant. Aber ich hab nie das Gefühl gehabt, dass Manuel Neuer in seinen Aktionen Unsicherheit ausstrahlt. Das war perfektes modernes Torhüterspiel.

Wen fanden Sie neben Neuer noch gut im deutschen Team?

(Schweigen) Das ist jetzt schon eine schwierige Frage, bei der man etwas nachdenken muss. Müller hat wie immer, vor allem läuferisch, überzeugen können. (Schweigen) Aber sonst hat es bei den meisten Licht und Schatten gegeben. Ich kann nicht sagen, dass noch glänzende Einzelleistungen dabei waren.

Vor dem Spiel musste Joachim Löw die Abwehr durch den Ausfall von Mats Hummels umbauen. Wie überzeugend war die Umstellung mit Shkodran Mustafi auf rechts?

Die Hereinnahme von Mustafi war logisch, weil er vorher schon einmal gegen Ghana länger zum Einsatz gekommen ist. Es ist jetzt vielleicht ungerecht, den Mustafi zu kritisieren, weil er eigentlich als Mitglied der Mannschaft genauso schlecht war wie das gesamte Team. Es ist schwierig, praktisch als Neuling gut zu spielen, wenn die gesamte Mannschaft einen rabenschwarzen Tag hat.

Mustafi war von Löw schon aus dem WM-Kader aussortiert und ist nur durch die Verletzung von Marco Reus wieder reingerutscht. Wie plausibel war es, dass er dann bei der WM plötzlich gespielt hat?

Das kann nur heißen, dass sich Mustafi erst nach der Verletzung von Reus in den Trainingseinheiten angeboten und Jogi Löw als beste Lösung aufgedrängt hat. Das kann man als Außenstehender nur so interpretieren. Für einen Nachrücker ist es überraschend. Leider fällt er jetzt für die gesamte WM aus, daher stellt sich die Frage nicht mehr.

Wie schwer wiegt der Verlust für das deutsche Team?

Jede Verletzung ist ein Verlust, weil der Kader personell schon durch Ausfälle wie von Reus und Ilkay Gündogan sehr dezimiert ist. Daher ist das zumindest einmal der Verlust einer Alternative, und das tut Jogi Löw wahrscheinlich auch weh. So viele Alternativen hat er ja nicht.

Durch die Mustafi-Verletzung musste Lahm doch wieder rechts in die Abwehr rücken. Welchen Einfluss hatte die Umstellung gegen Algerien?

Für mich war dann offensichtlich, dass Deutschland über die rechte Seite sehr gefährlich angegriffen hat. Es gab viele 100-prozentige Torchancen nach Flanken von der rechten Seite, teilweise von Lahm oder von Sami Khedira. Es war dann eher eine Ironie des Fußballs, dass beide deutschen Tore von der linken Seite gefallen sind.

Wird Löw durch Mustafis Pech zu seinem Glück mit Lahm auf rechts gezwungen?

Es könnte durchaus sein, dass Philipp Lahm jetzt wieder auf der Position des rechten Außenverteidigers spielt. Aber ich gehe davon aus, dass Löw festhält an Boateng, Mertesacker, Hummels und Höwedes. Ich glaube nicht, dass er gegen Frankreich in der Viererkette etwas ändern wird, sondern mit seinen vier Innenverteidigern weiter agieren wird. Sie sollen in erster Linie für die Balance im Team sorgen, das ist die Idee dahinter. Aber offensichtlich ist, dass Deutschland auf beiden Außenverteidigerpositionen im Spiel nach vorne große Probleme hat und dadurch das Spiel sehr leicht ausrechenbar ist. Das hat sich auch wieder gegen Algerien gezeigt.

Wie würde Ihre deutsche Abwehr gegen Frankreich aussehen?

Schwierig zu entscheiden. Das hängt davon ab, wie der Fitnesszustand von Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira im Mittelfeld ist. Löw traut beiden ein intensives Spiel über 90 Minuten nicht zu. Daher will er nicht mit beiden starten und es ist notwendig, dass Lahm im Mittelfeld spielt. Das ist der Grund für diese Variante.

Der Tenor im deutschen Team war hinterher: Hauptsache gewonnen. Per Mertesacker hat sogar einen Reporter angeblafft, der kritisch zur Leistung gefragt hat. Ist das verständlich?

Sehr wohl. Nach 120 Minuten, in denen das Weiterkommen immer auf der Kippe stand, muss man ganz einfach auch Verständnis dafür haben, auch wenn es nach außen hin sehr unprofessionell wirkt. Es ist klar, dass man zunächst einmal erleichtert ist. Ich hab das Interview mit Mertesacker, diese frustrierte Reaktion, interessant gefunden. Es ist ungewöhnlich, dass man so entnervt wirkt. Das Spiel hat dann sichtbar Spuren hinterlassen, weil Algerien so ein starker Gegner war und damit niemand wirklich gerechnet hatte.

Wie bewerten Sie nach vier Spielen das taktische Niveau der DFB-Elf bei dieser WM?

Ich glaube, dass gegen Ghana in der zweiten Spielhälfte als auch jetzt gegen Algerien Fehler im Umschaltspiel nach Ecken eklatant zu sehen waren. Ghana hat zweimal große Überzahl im Konter vorgefunden, auch jetzt wieder Algerien in der ersten Hälfte. Aber im Grunde genommen ist das taktische Verhalten der deutschen Mannschaft als solide zu bezeichnen. Im Spiel gegen Algerien war neu, dass man es in erster Linie mit Weitschüssen probiert hat, die sehr gefährlich waren, erfolgreich weniger. Sonst gibt es nichts Besonderes zu sehen.

Der deutsche Viertelfinalgegner Frankreich hat sich gegen Nigeria ebenfalls schwer getan. Was erwartet Deutschland gegen die Franzosen?

Anzunehmen ist, dass es ein sehr ausgeglichenes Spiel geben wird. Ich schätze Frankreich stärker ein als Algerien. Es bedarf also einer deutlichen Leistungssteigerung der deutschen Nationalmannschaft, um da gegen Frankreich weiterzukommen. Aber die Franzosen waren gegen Nigeria auch nicht so überzeugend wie in den Gruppenspielen. Von daher ist die Aufgabe für das DFB-Team durchaus lösbar.

Könnte Frankreichs Trainer Didier Deschamps probieren, gezielt die riskante Spielweise von Manuel Neuer auszunutzen?

Natürlich überlegt sich das jeder Trainer. Aber ich glaube nicht, dass Deutschland gegen Frankreich so hoch verteidigen wird, sondern bei Ballverlust viel kompakter und tiefer stehen wird. Neuer wird deshalb nicht so oft in solche Situationen kommen.

Wie weit geht es für die deutsche Mannschaft in Brasilien noch?

Ich glaube, es ist noch immer alles drin. Ich wüsste nicht, was sich geändert haben sollte. Auch die Gegner – jetzt Frankreich, dann könnte Brasilien warten - haben Probleme. Es ist nicht so, dass sich eine Mannschaft bisher als der absolute Topfavorit herauskristallisiert hat. Das ist noch ein ganz offenes Turnier. Da ist alles möglich.

Mit Josef Hickersberger sprach Christoph Wolf.

Quelle: ntv.de

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