Fußball-WM 2018

Tränen der Freude und der Trauer "Deutschland ist auf Jahre Titelkandidat"

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Die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien ist Geschichte. Weinende Brasilianer sind nur ein Bild, das im kollektiven Gedächtnis hängen bleibt. Feiernde Deutsche sind ein anderes. Welttorhüter Lutz Pfannenstiel zieht sein ganz eigenes WM-Fazit, sagt, wer überrascht, wer enttäuscht hat - und beantwortet im Interview mit n-tv.de die Frage: Was wäre passiert, wenn Deutschland bei seiner Heim-WM 2006 im Halbfinale gegen Italien eine ähnliche Klatsche bekommen hätte wie Brasilien 2014?

n-tv.de: Herr Pfannenstiel, endlich der vierte Stern, Deutschland ist nach 24 Jahren wieder Fußball-Weltmeister. Sind wir jetzt auf Jahre unschlagbar?

Lutz Pfannenstiel: Keine Mannschaft ist unschlagbar, aber der jetzige Kader mit den immer wieder nachrückenden Talenten ist auf Jahre ein Titelkandidat.

Kann dieses Team auch Europameister werden?

Ja, warum nicht, aber eine EM ist was ganz anderes als eine WM. Die Leistungsdichte ist noch enger und daher kann jeder jeden schlagen. Trotzdem wäre es natürlich die Krönung für diese Generation, auch Europameister zu werden.

Lutz Pfannenstiel war als TV-Experte in Brasilien vor Ort.

Lutz Pfannenstiel war als TV-Experte in Brasilien vor Ort.

(Foto: Lutz Pfannenstiel)

Was wird von der Weltmeisterschaft in Brasilien in Erinnerung bleiben?

Das frühe Ausscheiden von Weltmeister Spanien. Das Traumtor von James Rodriguez gegen Uruguay und auch der neue WM-Rekord von Miro Klose. Das frühe Ausscheiden von großen Mannschaften wie England, Portugal, Italien und eben Spanien bleibt hängen. Und zu guter Letzt wird das deutsche 7:1 gegen Brasilien in die Geschichtsbücher eingehen.

Sie sind bekannt geworden als Welttorhüter, haben etwa in Südafrika, England, Malaysia und auch Brasilien gespielt. Sie kennen Land und Leute. Wie lange wird Brasilien an der Klatsche gegen Deutschland zu kämpfen haben, wie tief sitzt der Stachel der Enttäuschung?

Sehr, sehr tief. Man kann knapp verlieren, aber die Höhe der Niederlage und das frühe Aufgeben der Mannschaft wird als nationale Katastrophe betrachtet. Für das Land ist diese Niederlage eine Blamage. Viele der Spieler wurden von der Presse und den Fans regelrecht geschlachtet. Fred war der Held des Confed Cups, war fast das ganze Jahr verletzt und würde als Sündenbock andauernd ausgepfiffen. Viele Spieler dieser Mannschaft werden Brasilien auch noch 2018 vertreten, aber die Leute erwarten Wiedergutmachung. Der Fußball hat die Nation in den letzten Wochen wieder etwas zusammengebracht.

Was wäre passiert, wenn Deutschland bei seiner Heim-WM im Halbfinale ein ähnliches Debakel gegen Italien erlebt hätte?

Dann hätten wir heute vielleicht keinen Nationaltrainer Löw. Aber die Kritik und auch der Spott hier in Brasilien sind schon enorm. Die Erwartungen waren riesengroß und Fußball ist in Brasilien Religion und Lebensinhalt in einem.

Liegt das auch an den unterschiedlichen Mentalitäten?

Der Brasilianer ist viel emotionaler. Er tendiert dazu, Sachen zu dramatisieren, aber zum Schluss hat er doch ein Lächeln auf den Lippen. Der Deutsche dagegen analysiert nach kurzer Zeit seine Fehler und versucht daraus zu lernen. Manchmal etwas zu kühl, aber eben effektiv.

Pfannenstiel machte sich als Welttorhüter einen Namen, als erster Profi, der in allen sechs Kontinentalverbänden gespielt hat. Heute ist er Scout für die TSG Hoffenheim (im Bild rechts: Rivaldo)

Pfannenstiel machte sich als Welttorhüter einen Namen, als erster Profi, der in allen sechs Kontinentalverbänden gespielt hat. Heute ist er Scout für die TSG Hoffenheim (im Bild rechts: Rivaldo)

(Foto: Lutz Pfannenstiel)

Was war sonst das Besondere an dieser WM, das Spezielle - außer dem historisch hohen Halbfinal-Triumph der Deutschen?

Brasilien ist einfach ein Fußballland. Die Stimmung war hervorragend und Brasilianer sind hervorragende Gastgeber. Besonders waren Sachen wie die großen Entfernungen zwischen den Städten, die Klimaunterschiede und die innenpolitische Situation. Obwohl die Menschen sauer auf die Politik sind, hat man diese Probleme zur Seite gelegt und den Fußballfans aus allen Herren Länder ein Spektakel geboten. Das war nicht selbstverständlich. Ich selbst habe am reibungslosen Ablauf gezweifelt und bin bisher eines Besseren belehrt worden.

Wer hat Sie überrascht?

Costa Rica war die Überraschungsmannschaft, nicht nur weil sie weit gekommen ist, sondern vor allem die Art und Weise. Taktisch stark, mit unglaublichen Willen und viel Herz. Mich hätte es für die Ticos gefreut, wenn sie gegen Holland im Elfmeterschießen gewonnen hätten. Auch die Mexikaner und Jürgen Klinsmanns US-Boys spielten guten Fußball.

Wer hat enttäuscht?

Ich war sehr enttäuscht von den Asiaten. Für alle vier Vertreter war in der Vorrunde Schluss. Es war klar, dass Australien wenig Chancen hatte, aus der schwierigen Gruppe rauszukommen. Japan und Südkorea haben in den letzten Jahren eher einen Rückschritt gemacht, obwohl Potenzial vorhanden ist. Der Iran hat sich noch am besten verkauft und viele Leute überrascht. Dass die Afrikaner wieder hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind, ist schade. Es fehlt einfach in entscheidenden Momenten die kollektive Cleverness.

In der Öffentlichkeit stand die raue Gangart der Teams und die lasche Haltung der Schiedsrichter am Pranger. Am Ende stehen so wenig gelbe Karten wie seit Langem nicht und die Horror-Verletzung von Neymar. Was muss sich ändern?

Es gab vor allem in der Vorrunde einige Fehlentscheidungen. Bei einer WM sollten die besten Schiedsrichter der Welt sein. Und wenn alle aus Europa kommen, dann soll es halt so sein. Da muss sich die FIFA etwas einfallen lassen. Dass Referees aus allen 6 Konföderationen Spiele leiten müssen, um Auflagen zu erfüllen, ist ein Denkfehler.

War das eine brutale WM?

Sie war nicht brutaler als die letzten Großturniere. Neymars Verletzung war schlecht für die ganze WM, aber Zúñiga wollte ihn sicher nicht verletzten. Bei der Aktion war Härte und viel Pech dabei. Trotzdem müssen die Schiedsrichter immer wieder angehalten werden, Kreativspieler zu schützen. Sie sind das Besondere an diesem Sport.

Hat sich der Stil des Fußballs verändert?

Nein, aber es gibt keine Kleinen mehr. Das Niveau ist zusammengerückt. Die Europäer und Südamerikaner sind immer noch die Besten, aber nicht mehr um Meilen voraus.
Der Fußball wird immer physischer. Es wird viel mehr gelaufen und das Nach-hinten-arbeiten ist inzwischen Normalität für jeden Angreifer. Die Zeiten, in denen sich Spielmacher oder Sturmspitze vorne eine Zigarre anzünden konnten und dem eigenen Team beim Verteidigen zuschauten, sind vorbei. Taktisch bewegt sich der Fußball, er ist inzwischen fast weltweit auf einem sehr hohen Niveau.

Brasilien waren die dritten Titelkämpfe, die Sie als Beobachter und TV-Experte vor Ort gesehen haben. Deutschland, Südafrika, Brasilien: Welches waren die schönsten Titelkämpfe und warum?

Das kann man so nicht vergleichen. Die WM 2006 war im wahrsten Sinne des Wortes ein Sommermärchen. Die Organisation war perfekt und ganz Deutschland profitierte davon. Daher steht diese WM für mich ganz oben.

Den Südafrikanern traute niemand eine WM zu, doch sie haben es geschafft. Da ich ein sehr emotionales Verhältnis zu Afrika habe, blicke ich mit großer Freude auf diese WM zurück. Brasilien war ohne Frage die wohl am schwersten zu organisierende WM aller Zeiten. Man hörte im Vorfeld nur Negatives, vom Stadionbau angefangen bis hin zur Kriminalität. Wenn man dann die großen Distanzen, die politischen Probleme und alles andere zusammenrechnet, dann hat Brasilien ein tolles Turnier organisiert. Man muss natürlich kritisch hinterfragen, ob diese WM dem einzelnen Bürger etwas gebracht hat. Das wage ich zu bezweifeln.

Mit Lutz Pfannenstiel sprach Thomas Badtke

Mehr vom Welttorhüter gibt es auch bei Twitter.

Quelle: ntv.de

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