Schönste Niederlage seines Lebens Klinsmann erlöst sich mit WM-Sensation
27.06.2014, 07:49 Uhr
(Foto: dpa)
Im Gruppenendspiel gegen Deutschland wird für Jürgen Klinsmann ein amerikanischer Fußballtraum wahr: Trotz der Niederlage macht Außenseiter USA den Einzug ins Achtelfinale perfekt. "Sensationell", wie Trainerkollegen finden.
Nach einem der größten Erfolge seiner Trainerkarriere schlich Jürgen Klinsmann nicht einsam über den Rasen von Recife, so wie einst Beckenbauer in Rom. Klinsmann war mittendrin, als die "USA, USA"-Rufe durch die Pernambuco-Arena hallten. Während sich das DFB-Team trainerlos beim deutschen Anhang bedankte, spazierte Klinsmann mit seinem Team jubelnd zur Fankurve, winkte ins Publikum und wurde beklatscht - für eine Niederlage, auf dem Spielberichtsbogen stand ja als Ergebnis: USA - Deutschland 0:1 (0:0). Tatsächlich hatte Klinsmann mit seinen WM-Außenseitern im Dauerregen von Recife ein kleines Kunststück fertig gebracht: Er hatte mit 0:1 gewonnen. Und dafür ließ er sich jetzt mit seinem Team feiern, für die vielleicht schönste Niederlage seines Lebens.
Tor: 0:1 Müller (55.) USA: Howard - Johnson, Gonzalez, Besler, Beasley - Beckerman, Jones - Zusi (84. Yedlin), Bradley, Davis (59. Bedoya) - Dempsey
Deutschland: Neuer - Boateng, Mertesacker, Hummels, Höwedes - Lahm, Schweinsteiger (76. Götze) - Özil (89. Schürrle), Kroos, Podolski (46. Klose) - Müller
Schiedsrichter: Irmatow (Usbekistan)
Zuschauer (in Recife): 41.876 in Recife
Wenig später musste ein abgekämpfter Klinsmann im schmucken Presseraum des Stadions eine Leistung in Worte fassen, die Josef Hickersberger bei n-tv.de als "sensationell" adelte. Es fiel Klinsmann leicht, weil kurz zuvor eine riesige Last von ihm abgefallen war, mühelos wechselte er zwischen Deutsch und Englisch. "Es ist ein tolles Gefühl, die Gruppenphase geschafft zu haben. Wir haben uns in einer der stärksten Gruppen bei dieser WM durchgesetzt." Trotz der Niederlage hatte sich sein als Außenseiter ins Turnier gestartetes US-Team hinter Deutschland und vor Cristiano Ronaldos Portugal und Geheimfavorit Ghana tatsächlich für das Achtelfinale qualifiziert. Das Spiel in Recife kannte keine Verlierer.
Und trotzdem strahlte Klinsmann nicht, Klinsmann, der doch immer strahlt! Er wirkte erleichtert, aber auch erschöpft, irgendwie selig, erlöst. Schon bei der Ankunft im Stadion, dem Weg durch die Katakomben, war sein Dauerlachen einem verkniffenen Lächeln gewichen. Bei allem Optimismus, den der 49-Jährige lebt und vermittelt: Dieses Gruppenfinale gegen sein Heimatland, dieses Duell mit seinem Freund Joachim Löw, diese Chance auf den Gruppensieg, diese Furcht vor dem Aus. Das alles nagt auch an einem wie Klinsmann. Das arbeitet, das zehrt.
"Logisch, dass das einen beschäftigt"
"Ich denke schon, dass es ein besonderes Spiel war. Für uns stand unheimlich viel auf dem Spiel. Für uns war es das Spiel schlechthin", sagte Klinsmann: "Logisch, dass das einen beschäftigt. Das beschäftigt auch die Familie. Aber ich bin froh, dass das jetzt abgehakt ist." Zumal es diese Konstellation so schnell wohl nicht mehr geben werden - und das wohl "ungewöhnlichste Spiel" seines Lebens zu einem der härtesten wurde, zur Tortur.
Das Weiterkommen der Amerikaner stand zwischenzeitlich auf der Kippe - in Brasilia. Kurz nach der deutschen Führung durch Thomas Müller (55.) glich Ghana im Parallelspiel zum 1:1 gegen Portugal aus. Ein weiteres Tor für Ghana und keins für die USA, dann wären die Afrikaner im Achtelfinale gewesen. Und Klinsmann wusste das, die ganze Zeit, er "war stets über den Stand im anderen Spiel informiert". Erst nach dem portugiesischen 2:1 durch Ronaldo konnte er etwas entspannen.
Aber auch seine eigene Mannschaft machte Klinsmann das Leben nicht leicht. Kampf und mutigen Angriffsfußball hatte er angekündigt, ein Spiel auf Sieg. Es blieb beim Kampf. Das US-Team stand zunächst sehr tief, zog sich zu weit zurück, gestattete Deutschland eine mühelose Dominanz. "Am Anfang hatten wir ein bisschen zu viel Respekt", sagte Klinsmann. Ein Remis reichte ja zum Weiterkommen und "es war nicht leicht, damit umzugehen", gab er später zu. Im Spiel hatte er früh versucht, von außen einzugreifen: "Ich habe geschrien, wie ich konnte, dass die Abwehrkette sich weiter nach vorne verschiebt." Es half ein wenig.
"Das freut mich wahnsinnig"
Auch im weitere Verlauf coachte er aktiv mit. Der Regen störte ihn nicht, genauso wenig wie Löw. Immer wieder war er unterwegs, gab Anweisungen, ärgerte sich über den Schiedsrichter und litt mit, als sein Team in der Nachspielzeit fast noch den Ausgleich erkämpft hätte. "Es war ein hartes Stück Arbeit", sagte Klinsmann, auch der Schlusspfiff hatte ja noch keine Erlösung gebracht. Erst als im Stadion Portugals 2:1-Sieg aus Brasilia eingeblendet wurde, durfte auch Klinsmann Glückwünsche entgegennehmen - von Joachim Löw.
"Ich habe gesagt: Ich gratuliere dir, das freut mich wahnsinnig", erzählte Löw über die kurze Umarmung und den Wortwechsel mit seinem früheren Boss. Etwas gestelzt fügte er an: "Das Erreichen des Achtelfinales ist für diese Nation ein weiterer Entwicklungsschritt. Wer gegen Ghana gewinnt und gegen Portugal unentschieden spielt, der hat es auch verdient." Und der kann ruhig gegen Deutschland verlieren.
Im Achtelfinale wartet auf die USA nun Belgien, das seinen Status als Geheimfavorit trotz der drei Vorrundensiege nicht unbedingt festigen konnte. "Wir lernen bei jedem Spiel dazu und werden mit dem Achtelfinale wieder wachsen", blickte Klinsmann voraus. Seinen persönlichen Wachstumsschub als Trainer hat er bei dieser WM. Ob noch weitere folgen? "Wir haben ein sehr, sehr starkes Team, die Spieler sind so hungrig." Satt sind sie also noch nicht.
Quelle: ntv.de