Fußball-WM 2018

WM-Kampfkunst gegen Algerien Neuer brilliert, Mertesacker meckert, Schürrle genial

Durchschnaufen, Thomas Müller: Die DFB-Elf erreicht die Runde der letzten Acht.

Durchschnaufen, Thomas Müller: Die DFB-Elf erreicht die Runde der letzten Acht.

(Foto: REUTERS)

Mit Glück und Libero Neuer rettet sich das DFB-Team im WM-Achtelfinale gegen Algerien ohne Gegentor in die Pause. Obwohl Joachim Löws Joker sticht, verliert ein DFB-Kicker nach dem 120-Minuten-Drama die Fassung.

Ein spielerischer Höhepunkt dieser Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien ist das nicht gewesen, was sich im Estadio Beira-Rio zu Porto Alegre zwischen Deutschland und Algerien abgespielt hat. Das sah auch Bundestrainer Joachim Löw so: "Ich glaube, am Ende war es ein Sieg des Willens und der Willenskraft." Aber spannend war es, ein packendes Fußballspiel. Nach 120 Minuten mühte sich das DFB-Team mit einem 2:1-Sieg ins Viertelfinale. Dort geht es am kommenden Freitag in Rio de Janeiro gegen Frankreich.

Der eingewechselte André Schürrle erzielte in der zweiten Minute der Verlängerung mit dem 1:0 das Tor des Abends. Per Hacke auf kunstvolle Weise, die so gar nicht passte zu diesem umkämpften und zähen Achtelfinale vor 43.063 Zuschauern. Dessen erste Halbzeit hatte das DFB-Team nach katastrophaler Leistung nur mit viel Glück ohne Gegentor überstanden. Mesut Özil erhöhte dann in der 118. Minute auf 2:0, ehe auch Algerien durch Abdelmonmene Djabou noch traf. Aber zu spät.

Viel Licht, aber auch Schatten hatte der Bundestrainer bei seiner Mannschaft in den drei Vorrundenspielen gesehen. Beim unerwarteten Kraftakt in Porto Alegre nun war es erst komplett bewölkt und später dunkel. Aber wer im Flutlicht steht, wirft keinen Schatten. Die Einzelkritik.

Manuel Neuer: War in Porto Alegre die Lichtgestalt der deutschen Mannschaft, was vor allem daran lag, dass der 26 Jahre alte Torhüter des FC Bayern München in seinem 49. Länderspiel hinter einer Mannschaft aus Schattenmännern spielte. "Das ist ja auch sein Spiel, dass er wie ein Libero agiert", sagte Löw hinterher. Damit unterschlug der Bundestrainer, dass Neuer in der ersten Halbzeit bester deutscher Feldspieler war - nicht nur als Libero, auch als Innenverteidiger und Außenverteidiger. Er bewies zu Beginn der zweiten Halbzeit auch mit echten Paraden, warum ihn als Torwart viele für den besten seiner Zunft halten. In Erinnerung werden aber seine Ausflüge bleiben. Weitere Beispiele gefällig? Nach 70 Minuten rettete er per Kopfball weit vor seinem Strafraum, nach 86 Minuten mit dem Fuß fast an der Mittellinie. Beim Gegentor nach 121 Minuten war dann auch Neuer machtlos. Schnappte sich aber den Ball, um wichtige Sekunden zu schinden.

Ein hartes Stück Arbeit: 120 Minuten braucht Deutschland, um Algerien niederzuringen.

Ein hartes Stück Arbeit: 120 Minuten braucht Deutschland, um Algerien niederzuringen.

(Foto: REUTERS)

Shkodran Mustafi: Mats Hummels hat's erwischt - die Grippe. Während der Dortmunder also krank im Bett seines Hotelzimmers in Porto Alegre lag, wie er via Twitter mitteilte, durfte sich der 22 Jahre alte Mustafi, natürlich gelernter Innenverteidiger, über seinen dritten Einsatz bei dieser WM und sein viertes Länderspiel insgesamt freuen, natürlich als Rechtsverteidiger. Nicht schlecht für einen, den der Bundestrainer eigentlich nicht für WM-tauglich befunden hatte. Schlecht allerdings für die Dortmunder Kevin Großkreutz und Erik Durm, die Brasilien wohl nur als Touristen erleben werden. Und Mustafi? Der gebürtige Bad Hersfelder soll ein feiner Kerl sein, erzählen sie sich in Nordhessen. War aber auf der Position rechts in der Abwehrkette wie gegen Ghana heillos überfordert und hatte vor der Pause gehörigen Anteil daran, dass die deutsche Mannschaft die schlechteste erste Halbzeit bei einer WM seit dem Viertelfinalaus 1998 gegen Kroatien zeigte. Durfte aber trotzdem weitermachen, fing sich ein wenig und köpfte nach 47 Minuten eine Flanke von Toni Kroos auf das algerische Tor. Allerdings auch genau auf den Torhüter, es war nicht Mustafis Spiel. Nach 69 Minuten war Schluss, er verletzte sich ohne Gegnereinwirkung. Nach einem Muskelfaserriss ist die WM für ihn beendet. Haben wir erwähnt, dass es nicht sein Spiel war?

Für ihn kam Sami Khedira. Der 27 Jahre alte Madrilene rückte in seinem 49. Länderspiel ins Mittelfeld und - Achtung Sensation - Kapitän Philipp Lahm übernahm wieder die rechte Abwehrseite. Khedira, nach dem USA-Spiel als Tempokritiker von der Bank auffällig geworden, machte seinen Job ordentlich. Gewann sogar ein paar Zweikämpfe im Mittelfeld und schlug in der 80. Minute die beste Flanke des Spiels auf Thomas Müller. Ging auch in der Verlängerung wichtige Wege.

Per Mertesacker: "The big fucking German", wie die Fans des FC Arsenal den 29 Jahre alten Innenverteidiger nennen, ist und bleibt einer der coolsten in seinem Metier. Was dazu führte, dass wenigstens er mit der ganzen Erfahrung von jetzt 102 Länderspielen im chaotischen ersten Abschnitt halbwegs die Ruhe bewahrte. Im zweiten Durchgang einmal gnadenlos überlaufen, wird er auch mit über 100 Länderspielen kein Sprinter mehr. Wirkte am Ende wie viele seiner Kollegen arg kraftlos, machte seine Sache aber insgesamt gut. Stand erst nach dem Spiel komplett neben sich, als er die insgesamt bescheidene DFB-Leistung kommentieren sollte und Algerien plötzlich zum Fußballriesen wurde: "Glauben Sie, unter den letzten 16 ist irgendeine Karnevalstruppe?"

Jeróme Boateng: Für den 25 Jahre alten Münchner muss die Startaufstellung ein Fest gewesen sein. Weil Hummels twitternd im Bett lag, durfte Boateng in seinem 43. Länderspiel wieder auf seiner Lieblingsposition in der Innenverteidigung spielen. Wirkte aber zu Beginn bei Weitem nicht so sicher wie in der Abwehrzentrale beim FC Bayern. Ließ sich nach einer Viertelstunde im Verbund mit Benedikt Höwedes düpieren. Hatte Glück, dass Libero Neuer immer wieder aushalf. Was nach der Pause von Boateng kam, war glatt eine Klasse besser. Sicher und souverän sorgte er für ein gehöriges Maß an Stabilität in der deutschen Abwehr. Zeigte in der Verlängerung die beste Abwehraktion des Spiels, als er beim Stand von 1:0 lässig den Fuß zwischen den Ball und seinen frei durchgebrochenen Gegenspieler stellte.

Benedikt Höwedes: Der Bundestrainer hatte in dieser Woche klar gesagt, was er vom 26 Jahre alten Schalker erwartet. Er soll verteidigen, ab und zu mal mit einem gewonnenen Kopfballduell ein Tor vorbereiten, das war's. Was insofern eine passende Arbeitsplatzbeschreibung ist, als dass Höwedes in diesem Leben kein Flankengott mehr wird. Fiel in seinem 25. Länderspiel zum ersten Mal auf, als er nach 13 Minuten vor dem eigenen Strafraum eine Kopfballkerze produzierte. Machte die Abwehr zusammen mit dem anderen Aushilfs-Außenverteidiger Mustafi zur Fehlerkette. Steigerte sich wie die gesamte Mannschaft dann im Laufe des Spiels, so dass es gerade noch zu einer soliden Leistung reichte.

Philipp Lahm: Wer hätte das gedacht? Der 30 Jahre alte Kapitän beendete sein 110. Länderspiel als rechter Außenverteidiger. Es ging einfach nicht mehr anders. Als Khedira eine Viertelstunde vor dem Ende der regulären Spielzeit für Mustafi kam, ging Lahm aus dem Mittelfeld zurück auf die Position, die er bei der DFB-Elf vor der WM seit Jahrzehnten innehatte. Es wäre jetzt zu einfach, den Knackpunkt allein in dieser Personalie festzumachen. Aber von da an lief es besser - weil sich Khedira ordentlich einfügte und Lahm bewies, dass man ihn nachts um halb drei wecken kann und er auch mit Schlaf in den Augen noch mit Abstand Deutschlands bester Außenverteidiger ist. Empfahl sich als dauerhafte WM-Lösung auf rechts, auch wenn er kurz nach der Pause aus dem Mittelfeld fast mit einem Costa-Rica-Schlenzer das 1:0 erzielt hätte. Davor wie schon in der Vorrunde mit einigen Unkonzentriertheiten im Aufbauspiel, die zum unruhigen deutschen Spiel beitrugen.

Bastian Schweinsteiger: Warum er nicht sprach, wissen wir nicht - er sprach ja nicht. So können wir nur vermuten, dass ihm vielleicht irgendetwas nicht gepasst hat. Gegen Algerien stand der 29 Jahre Münchner wie im abschließenden Gruppenspiel gegen die USA in der Startelf, sein 105. Länderspiel. Umarmte vor dem Anpfiff jeden seiner Kollegen, als wollte er zeigen: Hallo, ich bin wieder da. Und gehe auch so schnell nicht wieder weg - zumindest nicht freiwillig. Trat dann allerdings im Spiel weit weniger chefig auf und deutete an, warum er in Spötterkreisen bisweilen der Traber genannt wird. Will heißen: Er tat wenig dafür, das Spiel seiner Mannschaft schnell zu machen. Was allerdings auch daran lag, dass die Algerier ihn geschickt und eifrig daran hinderten. Kämpfte sich aber durch und setzte in der zweiten Hälfte wesentlich mehr Akzente als zuvor. Könnte er köpfen, hätte er dem DFB-Team in der 89. Minute die Verlängerung ersparen können. Ausgepumpt und von Krämpfen geplagt verließ er nach 109 Minuten den Rasen.

Für ihn kam Christoph Kramer zu seinem dritten Länderspiel und ersten Einsatz bei dieser WM. Der 23 Jahre alte Mönchengladbacher hatte kurz vor Schluss der Verlängerung die Großchance zum 2:0, scheiterte aber am Torhüter. Wird sein WM-Debüt in guter Erinnerung behalten.

Toni Kroos: Tauchte in der ersten Halbzeit seines 48 Länderspiels weitgehend unter. Zeigte technische Fehler, spielte Fehlpässe, zögerte, zauderte und trug dazu bei, dass dem Passmonster DFB-Team das Vertrauen ins eigene Kurzpassspiel abhandenkam. Der 24 Jahre alte Mittelfeldspieler des FC Bayern berappelte sich erst kurz vor der Pause ein wenig und versuchte das Spiel zu ordnen. Machte in der 44. Minute mit einem schönen Weitschuss auf sich aufmerksam. Senkte nach der Pause seine Fehlerquote. Konnte aber auch da nicht als "garcon", als Kellner glänzen. Der Edeltechniker arbeitete am Ende gemeinsam mit den Teamkollegen den Zittersieg nach Hause.

Mesut Özil: Wann hat das eigentlich angefangen, dass der 25 Jahre alte Mittelfeldspieler vom FC Arsenal nicht mehr selbst aufs Tor schießt? So versuchte er es nach 37 Minuten nach schönem Diagonalpass des Kollegen Müller vergeblich mit einer gelupften Flanke, anstatt selbst sein Glück zu suchen. Dabei war er doch in der Qualifikation zu dieser WM noch der erfolgreichste deutsche Torschütze. Auch sonst war Özil in seinem 59. Länderspiel nur sehr bedingt in der Lage, dem Spiel seiner Mannschaft auch nur irgendeinen Impuls zu geben. Bezeichnend eine Szene in der Verlängerung, als er eigentlich auf dem linken Flügel hätte durchstarten können, dann aber willenlos den Ball dem herbeigeeilten Thomas Müller überließ. Erzielte in der 120. Minute notgedrungen das 2:0, nachdem er frei vor dem Tor noch einmal auf Schürrle abgelegt hatte. Als dessen abgefälschter Schuss erneut bei Özil landete, konnte auch der nicht anders als schießen. Klopfte sich beim Jubel beherzt aufs DFB-Logo. Seine zielstrebigste Szene.

Mario Götze: 22 Jahre alt, 33 Länderspiele, 10 Tore. Vergab kurz vor der Pause nach einem Torwartfehler die Riesenchance, sein Schnapszahl-Triple zu vollenden. Schoss den Keeper an anstatt ins Tor. Wollte ansonsten schon immer irgendwie, konnte aber gegen die kämpfenden Algerier nicht. Nach der Pause war Schluss mit unlustig.

Für ihn kam der 23 Jahre alte André Schürrle zu seinem 35. Länderspiel. Und der Flügelspieler des FC Chelsea brachte gleich ein wenig Licht in die Dunkelheit, sprich mit seinem schnellen Antritt, seiner Dynamik und seinen Torschüssen Bewegung ins zuvor arg statische Spiel der DFB-Elf. Erwies sich als der perfekte Joker. Und hatte seinen großen Moment dann in der Nachspielzeit, als er nach Müllers hervorragender Vorarbeit auf dem linken Flügel den Ball mit der Hacke ins algerische Tor bugsierte. "Klar war ein bisschen Glück dabei, aber ich wollte den irgendwie aufs Tor kriegen", sagte er hinterher. Darf sich in dieser Form berechtigte Hoffnungen machen, im Viertelfinale gegen Frankreich zum ersten Mal bei diesem Turnier in der Startelf zu stehen. Analysierte aber auch knallhart, dass eine Teamleistung wie gegen Algerien dann "auf keinen Fall" reicht.

Thomas Müller: Der 24 Jahre alte WM-Torjäger aus München ließ sich in seinem 53. Länderspiel zunächst von den Fehlern seiner Kollegen anstecken, das Spiel lief vor der Pause auch an ihm vorbei. Nach 35 Minuten versuchte er es mit einem Kopfball aufs algerische Tor, nachdem tatsächlich der Kollege Mustafi den Ball nach innen geflankt hatte. Entwickelte sich im Laufe der Partie zu einem der besten Spieler seiner Mannschaft, weil es eben doch was bringt, die Zähne zusammenzubeißen. Hatte in der 80. und 82. Minute nach Vorarbeit von Khedira zwei Großchancen, köpfte einmal zu ungenau und schoss dann nach toller Ballverarbeitung am Tor vorbei. Stolperte wenig später bei einem deutschen Freistoßtrick. Arbeitete trotzdem weiter und bereitete in der Verlängerung Schürrles Hackentor vor. Energieleistung beschreibt Müllers Auftritt am besten.

Quelle: ntv.de

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