Fußball-WM 2018

WM-Analyse mit Hickersberger "Vier Innenverteidiger sind ein Jammer"

Auch Boateng konnte keinen Druck über die Außen entwickeln.

Auch Boateng konnte keinen Druck über die Außen entwickeln.

(Foto: REUTERS)

Der Gala gegen Portugal folgt für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft bei der Fußball-WM ein aufregendes Remis gegen Ghana. In der Spielanalyse für n-tv.de lobt der frühere österreichische Nationaltrainer Josef Hickersberger in Fortaleza beeindruckend aufspielende Ghanaer, aber auch Bundestrainer Joachim Löw  - und das DFB-Team für den "unbedingten Willen, das Spiel noch einmal zu drehen". Am deutschen Gruppensieg hat Hickersberger keinen Zweifel. An der Abwehrkette mit vier Innenverteidigern schon. Und an Holland auch.

n-tv.de: Nach dem 4:0 zum Auftakt gegen Portugal hat Deutschland nun 2:2 gegen Ghana gespielt. Wie fanden Sie das Spiel?

Josef Hickersberger

Josef Hickersberger

(Foto: imago sportfotodienst)

Hickersberger: An und für sich muss Deutschland mit diesem 2:2 zufrieden sein. Nach der 1:0-Führung ist Ghana sehr gut ins Spiel gekommen. Deutschland hat dann vielleicht nicht mehr mit der nötigen Konsequenz gespielt, und plötzlich stand es 2:1 für Ghana. Und das nicht einmal unverdient.

War es am Ende ein glückliches Unentschieden für Deutschland?

Nein, das würde ich auf keinen Fall sagen. Mir hat die Reaktion nach dem Rückstand imponiert. Da spürte man ganz einfach die Leidenschaft und den unbedingten Willen, das Spiel noch einmal zu drehen.

Welchen Anteil hatte Joachim Löw daran?

Natürlich verdient auch Jogi Löw ein Lob, denn er hat mit der Einwechslung von Bastian Schweinsteiger und Miroslav Klose die Grundlagen für das verbesserte deutsche Spiel gelegt. Man kann immer diskutieren, wer dann rausgeht, ob man Mesut Özil oder Mario Götze auswechselt. Sami Khedira hat kein gutes Spiel gemacht. Bei ihm ist zu sehen gewesen, dass er zwei Spiele innerhalb so kurzer Zeit noch nicht über 90 Minuten gehen kann. Das waren gute Wechsel, wenn sie man noch dazu mit denen vergleicht, die Italiens Nationalcoach Cesare Prandelli beim 0:1 gegen Costa Rica vorgenommen hat. Antonio Cassano kommt rein in der Pause und verliert 16-mal den Ball. Da waren das von Joachim Löw schon sehr effektive Wechsel, die wirklich gelungen sind.

Hat Sie überrascht, dass Schweinsteiger und Klose direkt so großen Einfluss auf das Spiel hatten?

Abteilung Attacke: Löw gibt dem Spiel mit Schweinsteiger und Klose Schwung.

Abteilung Attacke: Löw gibt dem Spiel mit Schweinsteiger und Klose Schwung.

(Foto: REUTERS)

Die haben imponierenden Einfluss auf das Spiel genommen, das war schon großartig. Aber über die Klasse von einem Klose und einem Schweinsteiger gibt es ja überhaupt keine Diskussionen. Für Klose war es dann noch dazu fantastisch, dass er mit seinem Tor nicht nur das Unentschieden erzielt hat, sondern den Torrekord von Gerd Müller übertroffen und den Rekord an WM-Toren von Ronaldo eingestellt hat. Das ist schon etwas ganz Besonderes, das ist sensationell.

Was denkt man als Trainer bei Kloses Salto, bei dem man ihm seine 36  Jahre angesehen hat?

(lacht) Da denkt man nur: Hoffentlich passiert ihm nichts!

Für die Zuschauer war es ein spektakuläres Spiel. Wie hoch war der Unterhaltungswert aus Trainersicht?

Auch für mich als Zuschauer war es ein spektakuläres Spiel. Gerade Ghana hat mich wirklich sehr beeindruckt. Vor allem nach der Auswechslung von Kevin-Prince Boateng sind sie dann im Spiel nach vorne dynamischer und aggressiver geworden. Das war schon sehr ansehnlich, was sie da mit den offensiven Außenverteidigern - im Gegensatz zu Deutschland - nach vorne entwickelt haben. Und sie haben dann bei 2:2 auch versucht, das Spiel zu gewinnen. Als Trainer schaut man eigentlich weniger auf den Unterhaltungswert. Da schaut man eher auf die Taktik beider Mannschaften, die Systeme.

Was haben Sie da gesehen?

Ghana hat ein klares 4-4-2 gespielt. Dadurch hat Deutschland im zentralen Mittelfeld eigentlich Überzahlen gehabt, daraus aber relativ wenig gemacht. In der Abwehr gab es wieder vier Innenverteidiger. Dadurch war das deutsche Spiel eigentlich sehr leicht auszurechnen, weil es nur auf den fließenden Positionswechseln der Offensivspieler beruht. Über die Außenpositionen haben weder Boateng noch Höwedes Druck nach vorne entwickeln können. Die wenigen guten Angriffe konnte man dann nicht richtig abschließen.

Sind vier Innenverteidiger in der Abwehrkette doch zwei zu viel?

Es ist für eine große Fußballnation wie Deutschland schon ein Jammer, wenn man vier Innenverteidiger in der Viererkette aufstellen muss, weil man ganz einfach wenig Alternativen an Außenverteidigern hat. Und die, die im Kader stehen, werden aus irgendwelchen Gründen nicht verwendet. Da wird Jogi Löw, der nahe an der Mannschaft ist, aber schon wissen warum.

Die deutschen Spieler haben vor allem in der ersten Halbzeit keine Antwort auf Ghanas auch körperlich robuste Spielweise gefunden. Haben Sie den Gegner unterschätzt?

Das glaube ich auf keinen Fall. Das hat man auch in den Interviews  vorher lesen können, nach dem Motto: Wer nachlässt, wird bestraft. Die deutsche Mannschaft hat ja auch gesehen, wie es Italien im zweiten Spiel ging. Da war man schon gewarnt. Nur hat man wahrscheinlich nicht mit der Aggressivität und Dynamik der Spieler von Ghana gerechnet und war vielleicht dadurch überrascht. Erst nach dem Rückstand hat Deutschland so richtig reagiert und den Ernst der Lage dann wirklich erkannt. Dann hat man auch auf der Tribüne den Willen gespürt: Jetzt wird Vollgas gegeben, wir drehen das Spiel noch einmal um.

Wie zufrieden kann Per Mertesacker mit seinem 100. Länderspiel sein?

Allein die dreistellige Zahl wird ihn zufriedenstellen. Dann noch aus einem Rückstand ein Unentschieden bei einer Weltmeisterschaft zu erreichen gegen einen in der Öffentlichkeit unterschätzten Gegner wie Ghana, das ist schon sehr positiv. Für ihn persönlich war es sicher nicht sein bestes Länderspiel. Aber es war für mich ein solides Spiel.

Zum Spieler des Spiels ist Mario Götze bestimmt worden. Wäre das auch ihre Wahl gewesen?

Nein, auch wenn er im Stile eines Kopfballungeheuers den Ball zum 1:0 verwertet hat. Für mich war Mann des Spiels auf deutscher Seite eindeutig Toni Kroos. Er hat im Mittelfeld das Kommando übernommen und war sehr passsicher, sehr präsent. Kroos, zusammen mit Lahm und Schweinsteiger, von denen ist der Umschwung ausgegangen nach dem Rückstand.

Deutschland gilt als Turniermannschaft, das ist ein geflügeltes Wort …

Nein, das ist kein geflügeltes Wort, das ist eine geschichtliche Tatsache!

Warum gelingt dann das zweite WM-Spiel immer nicht?

Das hat auch schon Tradition. Aber ich würde jetzt nicht davon sprechen, dass das Spiel nicht gelungen ist. Das Resultat war nicht so, wie sich das die Öffentlichkeit vorgestellt hat. Aber man kann nicht von einem misslungenen Spiel sprechen.

Welches Team hat Sie bei der WM bislang am meisten überzeugt?

Es gibt Mannschaften wie Frankreich und Chile, die zwei gute Spiele hintereinander gemacht haben. Costa Rica zählt auch dazu, Mexiko vielleicht noch. Brasilien war in beiden Spielen wirklich nicht überzeugend, hat gegen Kroatien Glück gehabt. Das Spiel nach vorne besteht eigentlich nur daraus, Neymar den Ball zu geben. Und der versucht auf eigene Faust, torgefährlich zu werden. Enttäuscht war ich aber vor allem von Italien im zweiten Spiel gegen Costa Rica. Das war katastrophal, wie Italien da gespielt hat. Argentinien hat nur durch ein Tor in der Nachspielzeit von Lionel Messi den Iran mit 1:0 besiegt. Auch das erste Spiel von Argentinien war unter jeder Kritik. So spielt auch kein Weltmeister.

Sehen Sie denn schon einen WM-Favoriten?

Im Moment ist noch keiner in Sicht, das wird sich dann in den K.o.-Spielen herauskristallisieren. Auch bei Holland kann ich mir nicht vorstellen, dass man mit dieser Spielweise Weltmeister werden kann.

Den holländischen 3:2-Sieg gegen Australien haben Sie sogar als erbärmlich bezeichnet. Was stört Sie an der Spielweise?

Holland spielt eigentlich fast nur auf Konter, allerdings mit einem überragenden Arjen Robben, mit einem sehr guten Robin van Persie. Da ist das schon eine Variante, die Erfolg bringen kann. Nur ist das nicht die Spielweise der Holländer. Ich glaube, Johan Cruyff wird daheim in seinen Interviews mit Louis van Gaal hart ins Gericht gehen wegen der Fünfer-Abwehrkette mit zwei defensiven Mittelfeldspielern. Das ist nicht typisch holländisch.

Deutschland hat jetzt ein Gruppenendspiel gegen die USA. Wie optimistisch kann das DFB-Team in diese Partie gehen?

Mit großem Optimismus und großem Selbstvertrauen. Ich glaube, dass Deutschland sich 100-prozentig als Gruppenerster qualifizieren wird. Weil die Mannschaft ganz einfach die Klasse dazu hat und im Vergleich zu den USA die bessere Mannschaft ist.

Mit Josef Hickersberger sprach Christoph Wolf

Quelle: ntv.de

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