Maske, Albträume, Trump, Jesus "Hulk" Saunders kämpft gegen mehr als den Rest der Welt
09.08.2024, 05:27 Uhr
Raven Saunders aus den USA sorgt für eine Show beim Kugelstoßen in Paris.
(Foto: picture alliance / BILDBYRÅN)
Raven Saunders bietet bei Olympia eine schrille Show mit vermummtem Gesicht und schrillem Style. Doch der non-binäre Kugelstoß-Champ aus den USA steht für mehr: Es geht um den Kampf für Diversität, gegen Suizidgedanken - und gegen Donald Trump.
Komplett vermummt, zentimeterlange Nägel, blau-neongrün gefärbte Haare, verspiegelte Sonnenbrille: Mit dieser Show der Extravaganz präsentiert sich Raven Saunders aus den USA am Donnerstag in Paris beim Einzug in das olympische Kugelstoßfinale (Freitag, 19:40 Uhr bei ZDF und Eurosport). Allen Zuschauerinnen und Zuschauern im Stade de France und an den Bildschirmen erkennen: Hier passiert nichts Alltägliches. Hier wird etwas Besonderes zelebriert.
Laut der Bundeszentrale für politische Bildung haben "nicht-binäre (Englisch 'non-binary') Menschen eine Geschlechtsidentität, die weder-noch, also weder ganz/immer weiblich, noch ganz/immer männlich ist". In diesem Text wird deshalb "sie/ihnen" als Singular verwendet.
Raven Saunders, 28 Jahre alt, verwendet als non-binärer Mensch die Pronomen "they/them" ("sie/ihnen"). Schon damit setzt sich Saunders von der Norm bei Olympia - und weltweit - ab. Zudem eckt Saunders mit dem Aussehen an: Zu den zehn Zentimeter langen Fingernägeln kommen ein goldener Nasenring und sogenannte Gold Grills, Hip-Hop-Zahnschmuck für die Zähne. They legt damit Vielfältigkeit und Diversität offen, regt zum Nachdenken an und unterhält schriller als andere Athletinnen und Athleten.
Die Silbermedaille im Kugelstoßen bei den Olympischen Spielen in Tokio vor drei Jahren wird etwa mit einem Twerk-Tänzchen auf der Tartanbahn gefeiert. Saunders bringt Entertainment ins Kugelstoßen, einen Wettbewerb, der sonst nicht zu den schillerndsten in der Leichtathletik gehört und meist nicht die Aufmerksamkeit wie ein 100-Meter-Finale, ein packender Stabhochsprung-Wettbewerb oder die Staffel-Läufe zur Primetime am Abend bekommt.
Saunders mit Hulk als Alter Ego
Vor allem kennen Leichtathletik-Fans Saunders aber wegen der Maske. Der komplett vermummte Auftritt in Paris, bei dem der Einzug ins Finale mit 18,62 Metern gelingt, ist eine Ausnahme. Normalerweise bekommen die Zuschauerinnen und Zuschauer den "Hulk", den grünen Helden mit übernatürlichen Kräften aus den Marvel-Comis, zu sehen. Saunders' Markenzeichen trägt der Kugelstoß-Champ zunächst in Tokio wegen Covid-Bestimmungen, dann aber zur Abschottung von den Konkurrentinnen im Wettkampf. Und um sich selbst als Superheld zu fühlen, der sich darauf vorbereitet, den 4 Kilogramm schweren Metallklumpen zu schleudern.
Ferner setzt Saunders sich lautstark für die Rechte von Schwarzen, Frauen und queeren Menschen ein - spricht offen über mentale Probleme und Suizidgedanken, um Mauern einzureißen. Wird dadurch zu mehr als einem Maskenmensch. Zu einem Symbol. Zu einem Sinnbild des Kampfes derjenigen, die abseits der Mehrheitsgesellschaft stehen und um Anerkennung und Rechte ringen.
"Hulk" fungiert hier als so etwas als ein Alter Ego, als Spiegelbild dessen, was Saunders über die Jahre gelernt hat, um sich zu beschützen und abzugrenzen und die eigene Stärke kontrolliert herauszulassen. Denn Saunders wächst in schwierigen Verhältnissen mit einer alleinerziehenden Mutter und Schwester auf. In einer Kurz-Dokumentation vom US-Sender PBS erzählte they von der Kindheit in South Carolina: "Es war die Norm, hart zu sein." Es kommen Stiefväter hinzu, die Drogenabhängige und Alkoholiker waren und Saunders' Mutter schlagen. Der Kugelstoß-Champ fühlt sich hilflos, fängt in der Highschool mit Krafttraining an, um sich zu beschützen.
"Am Anfang fiel es mir schwer, zu kontrollieren, wann der Hulk zum Vorschein kam und wann nicht", erklärt Saunders diesbezüglich. "Aber auf meinem Weg, vor allem im Umgang mit der psychischen Gesundheit, habe ich gelernt, mich abzugrenzen, so wie Bruce Banner (der brillante Wissenschaftler, der sich in den Comics zu einem grünen Giganten verwandelt), gelernt hat, den Hulk zu kontrollieren, und gelernt hat, den Hulk in den richtigen Momenten herauskommen zu lassen, was ihm auch ein Zeichen von mentalem Frieden gab."
Saunders mit Suizidgedanken
Als Saunders langsam stärker ist als die meisten Jungs der Schule, wird them vorgeschlagen, mal Kugelstoßen zu probieren. Mit Erfolg. "Ich hatte endlich etwas gefunden, das ich gut konnte", sagt Saunders in der PBS-Doku. "Es gab mir ein Gefühl von Bestimmung im Leben." Bei den Olympischen Spielen in Rio 2016 landet Saunders mit 20 Jahren überraschend auf Rang fünf. Aber der Erfolg lässt nach. In der Off-Season verliert der Kugelstoß-Champ den sportlichen Sinn im Leben.
Saunders verfällt in tiefe Depressionen. "Ich saß da mit meinen Kindheitstraumata, Stress und Selbstwertproblemen." All das schluckt they weiter hinunter, hat das Gefühl, mit niemandem reden zu können. Macht gute Miene zum bösen Spiel. Hört sogar mit dem Kugelstoßen auf. Suizidgedanken verfolgen Saunders und werden immer akuter. Als Saunders einmal kurz davor ist, sich das Leben zu nehmen, schreibt der Kugelstoß-Champ der damaligen Therapeutin, die sich glücklicherweise sofort zurückmeldet.
"Wenn ich einen Fuß in dieses Stadion setze, kann ich alles bewältigen", sagt Saunders heute, weil they so viel durchgemacht und überwunden hat. Darüber hinaus will Saunders die eigene Plattform nutzen, um die zu vertreten, die keine haben und Licht in ihre Leben bringen: "Ich hoffe wirklich, dass ich so viele Menschen in der LGBTQ-Gemeinschaft, so viele Menschen, die mit psychischen Problemen zu kämpfen haben, so viele Menschen aus der afroamerikanischen Gemeinschaft, so viele Schwarze auf der ganzen Welt inspirieren und motivieren kann, wenn ich mit einer Medaille nach Hause gehe."
- Bei Suizidgefahr: Notruf 112
Deutschlandweites Info-Telefon Depression, kostenfrei: 0800 33 44 5 33
- Beratung in Krisensituationen: Telefonseelsorge (0800/111-0-111 oder 0800/111-0-222, Anruf kostenfrei) oder Kinder- und Jugendtelefon (Tel.: 0800/111-0-333 oder 116-111)
- Bei der Deutschen Depressionshilfe sind regionale Krisendienste und Kliniken zu finden, zudem Tipps für Betroffene und Angehörige.
- In der Deutschen Depressionsliga engagieren sich Betroffene und Angehörige. Dort gibt es auch eine E-Mail-Beratung für Depressive.
- Eine Übersicht über Selbsthilfegruppen zur Depression bieten die örtlichen Kontaktstellen (KISS).
Historisch gesehen haben Schwarze US-Amerikanerinnen und -Amerikaner schlechteren Zugang zu angemessenen psychosozialen Diensten als die weiße Mehrheitsgesellschaft. Saunders möchte, dass diese Menschen auch erkennen, dass es in Ordnung ist, diese Dienste in Anspruch zu nehmen. "Es ist in Ordnung, stark zu sein und es ist in Ordnung, immerzu nicht 100 Prozent stark zu sein, und es ist in Ordnung, Menschen zu brauchen", sagt Saunders dazu nach dem Gewinn der Silbermedaille in Tokio.
Zeichen gegen Donald Trump
In Japan sorgt Saunders nach der Siegerehrung für Aufregung, als they die Arme über dem Kopf verschränkt in Form eines X. Dies stehe "für den Schnittpunkt, an dem sich alle Menschen treffen, die unterdrückt werden", sagt Saunders damals. Es war auch ein Zeichen an den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump und seine rechts-konservativen, spalterischen Gefolgsleute, die in den USA auf Athletinnen und Athleten verbal einprügelten, die ihnen zu "woke" erschienen.
Zwei Tage nach der Silbermedaille stirbt Saunders' Mutter und der non-binäre Kugelstoß-Champ postet in den sozialen Medien: "Meine Mama war eine großartige Frau und wird für immer durch mich leben. Mein Schutzengel Nummer eins." Später wird Saunders von der US-Anti-Doping-Agentur mit einer 18-monatigen Sperre belegt, weil they nicht zu Dopingkontrollen erschienen war. "Ich habe mich damit abgefunden und die Zeit genutzt, um mich auf die Arbeit zu konzentrieren", sagt das Talent, das keinen Trainer hat. "Mehr Zeit, um mich darauf zu konzentrieren, es in die Olympiamannschaft zu schaffen, mehr Zeit, um mich auf mich selbst und meine mentale Gesundheit zu konzentrieren. Es hat sich also tatsächlich als Vorteil für mich erwiesen."
Nun tritt Saunders im Finale von Paris an gegen Athletinnen, die ebenfalls große Kämpferinnen sind. Da ist etwa Deutschlands Kugelstoß-Hoffnung Yemisi Ogunleye: Das Jesus-Kreuz hat die gläubige Christin um den Hals und über dem Shirt hängen, kurz vor dem Stoßen geht sie ins Zwiegespräch mit ihrem Gott, schafft die Qualifikation fürs Finale als Drittbeste mit 19,24 Metern - und lässt einen Urschrei los. Die Mannheimerin Ogunleye gewann bei der diesjährigen Hallen-WM überraschend Silber und überzeugte in Paris auch als Sängerin: In den sozialen Medien gab sie jüngst ein Duett mit Weitsprung-Königin Malaika Mihambo zum Besten.
Auch am Start im packenden Wettkampf am Abend: Alina Kenzel (18,16 Meter) aus Stuttgart, Tokio-Olympiasiegerin Lijiao Gong (18,78/China) und Mitfavoritin Sarah Mitton (19,77/Kanada). Weltmeisterin Chase Jackson (geborene Ealey) muss nach ihren 17,60 Metern jedoch überraschend die Koffer packen. Die 30-Jährige sorgte bei ihrer Ankunft in Paris noch für Aufregung und Mitgefühl: In einer Story auf Instagram erzählte sie unter Tränen von einem "logistischen Albtraum". Es war keine Uniform in ihrer Größe da. Zwar habe Jackson ihre Figur mittlerweile akzeptiert, aber sie erklärte, dass es Zeiten gab, in denen sie wegen ihres Körpers diskriminiert wurde und "das ist verletzend".
Saunders mit "Kraft der Resilienz"
Noch nie hat jemand aus den USA mehrere olympische Medaillen im Kugelstoßen der Frauen gewonnen. Saunders will das ändern. Mit Maske, Nägeln und Gold-Glitzer auf den Zähnen. Und mit dem Signal an andere, die nicht der Norm entsprechen, sich nicht verstecken zu müssen.
"In den dunklen Tagen habe ich mich aus dem Bett geschleppt, mich in den Kraftraum geschleppt, mit Tränen in den Augen und der Frage, wann es endlich vorbei ist, und ich habe einfach jeden einzelnen Tag weitergekämpft", erinnert sich Saunders in Paris an die schlimmen mentalen Episoden. "Es fühlte sich an wie Monate ohne Ende, und schließlich hatte ich einen Durchbruch. Das ist die Kraft der Resilienz, der Beharrlichkeit, des Vertrauens und des Glaubens."
Saunders hat immer wieder erwähnt, wie they als Kind zu Venus und Serena Williams aufgeschaut hat und was die Sichtbarkeit der Schwarzen Tennis-Stars bedeutet hat. Jetzt hofft Raven Saunders andere Mädchen, Jungen, Frauen, Männer und alle dazwischen zu inspirieren. Durch offene Worte. Und durch starke Leistungen im Kugelstoßfinale von Paris.
Quelle: ntv.de