"Drama-Duell" mit Goldchance Mit Rakete Uscins fliegt Deutschland in große Höhen
09.08.2024, 10:57 Uhr
Das DHB-Team will jetzt "alles".
(Foto: IMAGO/wolf-sportfoto)
Die deutsche Handball-Nationalmannschaft spielt um die olympischen Medaillen. Zu erwarten war das nicht, es ist aber Teil einer Entwicklung. Nach dem "Handball-Wunder" gegen Olympiasieger Frankreich will man nun alles.
13 Sekunden waren noch zu spielen vor knapp 30.000 entfesselten Franzosen, die im zum Handball-Tempel umfunktionierten Fußball-Stadion von Lille ihre Mannschaft ins Halbfinale des Olympischen Handballturniers schreien wollten. 13 Sekunden, eine eigentlich chancenlose Winzigkeit, wenn man mit zwei Toren zurückliegt. Wie die deutsche Mannschaft, die in einem großen Spiel alles gegeben hatte, aber am Ende wieder mit leeren Händen dazustehen schien, wie so oft in den vergangenen Jahren.
27:29 stand es, dann holte Renars Uscins die deutsche Handballzukunft endlich, endlich in die Gegenwart. In einem irren Finale rettete Uscins sein DHB-Team erst gegen jede Wahrscheinlichkeit in die Verlängerung, dann schickte die deutsche Mannschaft die legendäre goldene Generation der Franzosen ins Tal der Tränen.
Der Linkshänder, der im vergangenen Sommer noch in der Junioren-Nationalmannschaft gespielt hatte, stand am Ende bei 14 Treffern. Kein anderer deutscher Nationalspieler hatte bei Olympischen Spielen jemals so oft in einem Spiel getroffen. Die deutsche Mannschaft steht im Halbfinale. "Jetzt wollen wir alles. Das ist doch ganz klar. Jetzt willst du das Beste und das Beste ist Gold", sagte Linksaußen Rune Dahmke vor dem Halbfinale gegen Spanien (16.30 Uhr/ ZDF und im Liveticker auf ntv.de).
Die Zukunft ist da
Das olympische Turnier hat eine unglaubliche Leistungsdichte, nur zwölf Teams kämpften um die Medaillen. Beinahe ausschließlich weltklasse, mit Ungarn und Kroatien blieben zwei höher gehandelte Teams schon in der Vorrunde hängen. Und die deutsche Gruppe, die das DHB-Team mit gleich neun Olympia-Debütanten gewann, stellt drei von vier Halbfinalisten. Die Franzosen, der Europameister und Titelverteidiger, der Gastgeber, der von Zehntausenden angetrieben wurde, war ein dermaßen gefürchteter Viertelfinalgegner, dass Slowenien das letzte Gruppenspiel gegen Deutschland absichtlich verlor, um der "Équipe tricolore" aus dem Weg zu gehen. Schwerer konnte der Weg nicht sein, den die deutsche Mannschaft bis hierher genommen hat.
Bei der Heim-Europameisterschaft im Januar, wo sie doch insgeheim gehofft hatten, mit dem Publikum im Rücken eine der großen Nationen mächtig zu ärgern, anstatt nur ein bisschen zu nerven, gab es noch Pleiten in Serie: gegen Frankreich in der Gruppenphase, gegen die übermächtigen Dänen im Halbfinale und schließlich gegen Schweden in einem deprimierenden Spiel um Platz drei. Trotzdem gab man sich gewiss, die Lücke, die sich in den vergangenen Jahren zu den absoluten Topnationen Frankreich, Dänemark, Schweden und Spanien aufgetan hatte, verkleinert zu haben. Nicht ganz so spektakulär, wie erhofft, aber doch ein Stückchen.
"Wir haben nicht die Erfahrung von Dänemark, Frankreich und Schweden, aber sehr viel Talent", sagte Bundestrainer Alfred Gislason vor einem halben Jahr. "Durch neue Spieler im Kader haben wir neue Optionen bekommen, die in der Zukunft sehr wertvoll sein können. Das war ein Schritt nach vorn", lobte Kapitän Johannes Golla in seinem EM-Fazit.
Nun ist die Zukunft also da: Mit Uscins, dem ebenfalls erst 22 Jahre alten Keeper David Späth, der mit einer finalen Parade das Wunder von Lille perfekt machte, Kapitän Golla (26), Julian Köster (24) und Spielmacher Juri Knorr (24) haben die Leistungsträger sogar noch Entwicklungspotenzial. Gegen Spanien, das sich erst nach Verlängerung gegen Ägypten ins Halbfinale kämpfte und das in der Vorrunde gegen Deutschland verlor (31:33) ist das DHB-Team nun auf einmal sogar der leichte Favorit. Und sie haben die Hand an der ersten Medaille seit 2016.
Einstimmung aufs "nächste Drama"
Verführen lassen will man sich von diesem Gedanken freilich nicht: "Die Spanier sind eine Mannschaft, die in so einem Turnier auch ins Finale kommen kann, ohne einmal ein gutes Spiel zu machen. Das fühlt sich auch gerade so an. Es ist ein sehr unangenehmer Gegner", mahnte Kapitän Golla. "Ich hoffe, dass es kein Nachteil wird, weil wir es auf die leichte Schulter nehmen, aber das wird natürlich nicht passieren." Linksaußen Dahmke, einer der letzten Routiniers im Team, ist sich derweil sicher: "Das wird nicht normal entschieden." Der Europameister von 2016 stimmt sein Team und die Fans schon "auf das nächste Drama" ein.
Und Hoffnungsträger Uscins, der mit 42 Treffern auf Rang 4 der Torschützenliste des olympischen Turniers liegt, will "denselben Kampf zeigen" wie beim epischen Erfolg gegen Frankreich. "Sonst spielen wir ganz schnell um die bronzene", sagte Uscins. Sein Rezept? "Wir wollen den Flow mitnehmen!"
In dieser Mannschaft steckt nicht nur eine Menge Talent, sondern auch großer Wille und die Gier nach neuen Erfolgen. Bei der Heim-EM, bei der das DHB-Team zwischenzeitlich für Euphorie gesorgt hatte, hatte sie den Beweis geliefert. Schon vor dem Spiel um Platz drei hatte die Mannschaft der Einladung der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reeker, sich für eine eventuelle Bronzemedaille im historischen Rathaus der Stadt feiern zu lassen, eine klare Absage erteilt: "Bronze wäre ein großartiger Abschluss, aber wir sind damit nicht am Ende unseres Weges. Deshalb gehören wir noch nicht auf einen solchen Empfang", verkündete Kapitän Golla für seine Mannschaft. Nun sind sie auf dem Weg schon ein gutes Stück weiter.
Quelle: ntv.de