"Trainer ist kein Idiot" Löw will seinen Turnierfluch brechen
12.06.2012, 13:38 Uhr
Zufrieden, aber noch nicht bei 100 Prozent - so fällt Löws Fazit nach dem ersten Spiel aus.
(Foto: picture alliance / dpa)
Mit einem Arbeitssieg sind Joachim Löws Spaßfußballer in die EM gestartet. Franz Beckenbauer sieht alte deutsche Fußballtugenden wiederbelebt. Aber: Einen Paradigmenwechsel wird es nicht geben. Schon gegen Erzrivale Niederlande will Löw wieder schönen Offensivfußball sehen – und damit einen ominösen EM-Fluch beenden.
20 Minuten war das DFB-Training am Sonntag für Medienvertreter offen. Der interessierte Beobachter konnte den deutschen Ersatzspielern dabei zusehen, wie sie sich bei Kreiselspielchen und Koordinationsübungen bester Laune erfreuten. Die Torhüter machten Torhüterübungen, Bundestrainer Joachim Löw jonglierte abseits mit einem Ball. Hansi Flick stellte Hütchen auf. Am Montag blieben den Medien vergleichbar tiefgreifende Einblicke verwehrt. Das letzte Training in Danzig vor der Abreise zum zweiten Vorrundenspiel im ukrainischen Charkow war eine geschlossene Veranstaltung. Dafür war zu erfahren: Deutschlands beste Fußballer konnten erstmals auf der Terrasse essen und haben die Lounge-Zelte des DFB in Beschlag genommen.

Mit einem Sieg gegen die Neiderlande könnten Schweinsteiger & Co. den Einzug ins Viertelfinale am Mittwoch schon klarmachen.
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Es darf davon ausgegangen werden, dass es dabei und auch beim geheimen Üben für das Duell mit dem angeknockten Erzrivalen Niederlande am Mittwoch (ab 20.45 Uhr im n-tv.de Liveticker) recht vergnügt zuging. Viele der kleinen Probleme und Unsicherheiten, mit denen Löw und seine Mannen zum EM-Auftakt gegen Portugal gereist waren, haben sie am Samstagabend in Lemberg gelassen. Die vermeintlich wacklige Abwehr stand sicher und steht jetzt für das Turnier, und gegen Oranje ist neben den angeschlagenen Routiniers Miroslav Klose und Per Mertesacker auch Ersatz-Spielmacher Mario Götze fit für einen Einsatz. "Wir haben personell überhaupt keine Probleme", sagte Löw: "Das ist absolut erfreulich."
Der sichtbar lockere Bundestrainer, der in der Lemberger Coachingzone vor lauter Anspannung noch Brasilien bespaßt hatte, ist vor dem Holland-Spiel um die richtige Dosierung von Erleichterung ("Punkte waren sehr wichtig") und Ermahnung ("keinen großen Schritt gemacht") bemüht. Aber so kurios es klingt: Der intensiv erkämpfte Arbeitssieg gegen disziplinierte Portugiesen hat Deutschlands Spaß- und Tempofußballern nach der zerrütteten Vorbereitung Vertrauen in die eigene Stärke zurückgegeben. "Es ist doch schön, das erste Spiel gewonnen zu haben, auch wenn man noch nicht bei 100 Prozent ist", findet Siegtorschütze Mario Gomez.
"Sonst gewinnst du nix"
Dass sie unter der Anleitung des Fundamental-Ästheten Löw schönen Fußball spielen können, wissen die DFB-Kicker längst. Seit Samstag haben sie nun die Gewissheit, dass sich in engen Partien gegen sehr starke Gegner selbst unter dem Druck der Turniersituation Siege auch mal erkämpfen lassen. Ganz ohne Glanz. Aber mit einer stabilen Defensive und unbedingter Einsatzbereitschaft, wie sich auch jeden Eishockeytrainer glücklich machen würde.
Franz Beckenbauer feierte in seiner "Bild"-Kolumne prompt "echten Männer-Fußball - mit Zweikämpfen, mit Leidenschaft und Kampfwillen" und kam gewohnt rückwärtsgewandt zu dem Schluss: "Das war immer die Basis aller EM- und WM-Titel für Deutschland. Sonst gewinnst du nix."
Pech für Beckenbauer: Einen Paradigmenwechsel im deutschen Spiel wird es nicht geben. Löw hat vor dem Turnier im "11Freunde"-Interview betont, dass er den Titel auf schöne Weise gewinnen will - weil man ihn hässlich gar nicht mehr gewinnen kann. Für die EM hat er seine ästhetischen Ansprüche lediglich den Turniergegebenheiten angepasst. "Bei unserem Spielstil ist mir manchmal auch im Jahr oder in der Qualifikation lieber 4:2, 6:2, vielleicht mal 5:2, 4:1, 3:2 zu gewinnen ", erklärte Löw. Jetzt im Turnier sei es aber "schon auch wichtig, die Defensive stabil zu haben."
Das klappte gegen Portugal unverhofft gut. Klar sei aber auch, "dass wir es offensiv besser machen können". Und wollen, schon gegen die Holländer, denen Löw "Weltklassepotenzial" bescheinigt – wie auch seinem Team. Das berauschende 3:0 im November 2011 sei für das EM-Duell aber ein Muster ohne Wert. Teammanager Oliver Bierhoff fände es "verrückt zu glauben, dass das Spiel jetzt wieder ähnlich laufen würde".
Löw will auf Sieg spielen
Löw interessiert ohnehin ein anderes Muster viel mehr, das sein Team in Charkow durchbrechen soll – der Fluch des zweiten Turnierspiels. "Wir haben schon einige Male zu Beginn eines Turniers gewonnen, uns aber nach dem zweiten Spiel das Leben wieder unnötig schwer gemacht", erinnerte Löw an die EM 2008 und die WM 2010. Diesmal soll sein Team möglichst schon "alles klar machen". Mats Hummels, der große Gewinner des EM-Auftakts, empfindet es als "Riesenmotivation", vorzeitig die K.o.-Runde erreichen zu können. Er kündigte selbstbewusst an: "Wir werden voll auf Sieg spielen."
Dass die brisante Ausgangslage der Niederländer, die nach ihrer Auftaktniederlage vor dem frühen Aus stehen, Einfluss auf seine Spielvorbereitung haben könnte, schloss Löw aus: "Ich werde mich nicht nach den Holländern richten. Wir müssen unser Spiel durch- und unsere Qualitäten einbringen." Zumindest seine Einschätzung, beide Teams hätten sich längst durchanalysiert und würden sich auswendig kennen, wurde durch das Geheimtraining als Koketterie entlarvt.
Erneute "Überraschungen" in der Startelf ließ Löw nach seinen Glücksgriffen gegen Portugal offen. Er gab lediglich preis, dass seine Entscheidungen stets eine Mischung aus Kopf ("Der Trainer sieht viel") und Bauch ("Vielleicht habe ich ja eine Eingebung") seien. Grundsätzlich sei es aber so, wie es der große Giovanni Trapattoni einst gesagt habe: "Trainer ist kein Idiot."
Quelle: ntv.de