Brüssel vergleicht Arbeitszeiten Deutsche häufen Überstunden an
08.09.2014, 11:00 Uhr
Es brennt noch Licht im Büro: "In keinem Land der Eurozone" laufen vereinbarte und tatsächlich geleistete Wochenarbeitszeit so weit auseinander wie in Deutschland.
(Foto: picture alliance / dpa)
Jetzt ist es offiziell: Nirgendwo innerhalb der Eurozone werden so viele Überstunden geleistet wie in Deutschland. EU-Sozialkommissar Andor bestätigt eine Entwicklung, die Gewerkschafter mit neuen Argumenten in der Tarifdebatte versorgt.
Deutsche Arbeitnehmer machen nach Erkenntnissen der EU-Kommission in Brüssel im Durchschnitt mehr Überstunden als ihre Kollegen in den europäischen Nachbarländern. "In keinem Land der Eurozone gibt es einen so großen Unterschied zwischen der tarifvertraglich vereinbarten Wochenarbeitszeit und der tatsächlichen Wochenarbeitszeit wie in Deutschland", sagte der zuständige EU-Sozialkommissar Lazlo Andor der "Welt".

Sollen Überstunden grundsätzlich bezahlt werden?
EU-Studien zufolge liegt die vereinbarte Wochenarbeitszeit in Deutschland im Schnitt bei 37,7 Stunden - tatsächlich arbeiteten die Beschäftigten aber 40,5 Stunden in der Woche. Jedes Land habe bei der Arbeitszeit seine Eigenheiten, betonte der Brüsseler Sozialkommissar. "Wichtig ist am Ende, dass das Land wettbewerbsfähig ist und dass die Vorgaben der EU-Arbeitszeitrichtlinie eingehalten werden - das ist in Deutschland im Allgemeinen der Fall", sagte Andor.
Wie unabhängig von den Feststellungen des EU-Sozialkommissars bekannt wurde, sind die Kosten für eine reguläre Arbeitsstunde in Deutschland zuletzt langsamer gewachsen als im EU-Schnitt. Für das erste Quartal betrug die Steigerung im Vergleich zum Vorjahresquartal hierzulande 0,5 Prozent, wie das Statistische Bundesamt mitteilte.
Arbeitskosten in Deutschland
Sowohl in der gesamten EU (26 von 28 Mitgliedsstaaten) als auch in der zweitgrößten Volkswirtschaft Frankreich verzeichneten die Statistiker mit jeweils plus 1,2 Prozent deutlich stärkere Zuwächse als in Deutschland. Im zweiten Quartal, für das noch keine europäischen Vergleichszahlen vorliegen, lag die jahresbezogene Steigerung in Deutschland mit 1,7 Prozent dagegen deutlich höher.
Erst Ende vergangener Woche hatten die Chefs mehrerer Krankenkassen den deutschen Arbeitgebern pauschal eine Mitschuld am dramatischen Anstieg der "Burnout"-Erkrankungen und Depressionsfälle in deutschen Unternehmen zugesprochen.
Die Vorstandsvorsitzenden der Barmer GEK, der Techniker Krankenkasse (TK) und der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) forderten in der "Welt am Sonntag" eine Stärkung der Gesundheitsvorsorge in den Betrieben. Der Vorstoß der Krankenkassen bekommt Rückendeckung von der Bundesregierung: Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe unterstützte den Appell. Der DGB forderte eine Anti-Stress-Verordnung mit klaren Regeln.
Recht auf Offline-Zeiten?
"Die Veränderungen in unserer Arbeitswelt zum Beispiel durch den Gebrauch von Smartphones und die damit verbundene ständige Erreichbarkeit führen zu immer mehr Stress", sagte Barmer-Chef Christoph Straub. Er sprach sich dafür aus, die Arbeitgeber per Gesetz zu zwingen, Mitarbeitern das Recht auf Ruhepausen zuzugestehen. "Niemand sollte immer erreichbar sein müssen - hier kann ein Gesetz durch klare Maßstäbe gegen Dauerstress Gesundheit schützen", sagte Straub.
KKH-Chef Ingo Kailuweit warf den Unternehmen vor, ihre Verantwortung für die Beschäftigten zu vernachlässigen. Viele Betriebe versäumten es, ihre Mitarbeiter gezielt auf einen verträglichen Umgang mit wachsendem Stress vorzubereiten. "Hier müssen die meisten Arbeitgeber umdenken", forderte er. TK-Chef Jens Baas rief die Unternehmen auf, verstärkt in betriebliches Gesundheitsmanagement zu investieren: "Hier ist jeder Euro gut angelegt."
Burnout: "Folge beruflicher Belastungen"
Gesundheitsminister Gröhe stellte sich hinter den Appell der Kassen. "Gute Präventionsprogramme können dazu beitragen, dass Krankheiten wie Burnout oder körperliche Beschwerden als Folge beruflicher Belastungen gar nicht erst entstehen", sagte er der "Welt am Sonntag". Gesundheit und Zufriedenheit der Beschäftigten zu fördern liege im eigenen Interesse der Betriebe. "Unternehmen, die das erkennen, steigern letztlich auch ihre Wettbewerbsfähigkeit", sagte Gröhe.
Nach Angaben der Krankenkasse DAK sind 16 Prozent aller Fehltage in den Betrieben im ersten Halbjahr 2014 auf psychische Erkrankungen wie Burnout zurückzuführen. Die Zahl der Krankheitsfälle wegen Depressionen oder Angstzuständen stieg demnach um gut zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum an.
"Überstunden, Schichtarbeit, Rufbereitschaft"
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sieht Burnout auf dem Weg zu einer neuen Volkskrankheit. "Überstunden, ausgefallene Pausen, Schichtarbeit, Rufbereitschaft und schlicht zu viele Aufgaben - das gehört mittlerweile für Millionen von Beschäftigten zum Alltag", sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach der "Welt".
Im Jahr 2012 fehlten laut Buntenbach Beschäftigte wegen psychischer Erkrankungen an 61 Millionen Arbeitstagen am Arbeitsplatz. Das entspreche der Arbeitsleistung von knapp 250.000 Menschen.
Quelle: ntv.de, mmo/AFP/dpa