Wirtschaft

Ökonomische Geheimniskrämerei Die Wirtschaftsdaten, die Putin lieber verheimlicht

Die Sanktionen sind verpufft, behauptet der russische Präsident Putin.

Die Sanktionen sind verpufft, behauptet der russische Präsident Putin.

(Foto: AP)

Was bringen die westlichen Sanktionen? Nichts, sagt Russlands Präsident Putin. Der "ökonomische Blitzkrieg" sei gescheitert. Trotzdem hält der Kreml wichtige Wirtschaftsdaten seit einigen Wochen geheim. Denn die offenbaren eine katastrophale Lage der Volkswirtschaft.

Die Sanktionen wirken nicht, mit ihrem geplanten Öl-Embargo begeht die EU "wirtschaftlichen Selbstmord" - der russische Präsident Wladimir Putin hat keinen Zweifel, wer wirtschaftlich am meisten unter seinem Angriff auf die Ukraine leidet. Nicht durchdacht und chaotisch sei das, was die EU und ihre Partner machten, sagt Putin. Der Westen bereitet sich in seinen Augen so viele selbstverschuldete Probleme, die Russland nur ausnutzen müsse. Eine blumige Sichtweise, die sich in den russischen Wirtschaftsdaten eher nicht widerspiegelt.

In Deutschland befindet sich die Inflationsrate derzeit bei 7,4 Prozent. Das ist getrieben von hohen Energiepreisen der höchste Stand seit 40 Jahren und dennoch nur ein Bruchteil der russischen Teuerung: Im April lag die jährliche Inflationsrate bei 17,8 Prozent, wie die russische Statistikbehörde Rosstat mitteilte. Besonders teuer sind demnach Lebensmittel geworden, die aktuell etwa ein Fünftel mehr kosten als vor einem Jahr. Vor allem für Haushalte mit niedrigem Einkommen ein Grund zur Sorge, die anteilig am meisten Geld für Essen und Trinken ausgeben - und vielfach um ihre Jobs fürchten müssen.

Beispielsweise lässt McDonald's bei seinem Abschied aus Russland 62.000 Beschäftigte zurück. Die amerikanische Fastfood-Kette zahlt die Gehälter erst einmal weiter - aber nur, bis die 850 Restaurants verkauft sind. Ähnliche Lohnausfälle drohen bei Renault, das vor seinem Abschied 45.000 Menschen in Russland beschäftigte. Ikea überweist seinen 15.000 Angestellten nur noch bis Jahresende die Gehälter. Bei Siemens standen vor dem Abschied 3000 Russinnen und Russen auf dem Lohnzettel.

Daten-Blackout zur Vernebelung

Im Februar und März reagiert die russische Zentralbank souverän auf die westlichen Sanktionen und verhinderte das Schlimmste. Inzwischen aber blickt Notenbankchefin Elwira Nabiullina einer düsteren Zukunft entgegen. Die russische Wirtschaft müsse sich wegen der Sanktionen neu aufstellen, mahnte sie im April. Frühestens 2024 werde die Teuerungsrate wieder das Ziel von 4 Prozent erreicht haben.

Wie schlimm die wirtschaftlichen Probleme in Russland wirklich sind, können abgesehen von Nabiullina vermutlich nur sehr wenige Menschen einschätzen. Die Inflationsdaten werden noch veröffentlicht, die Arbeitslosenzahlen und die aktuellste Schätzung des Bruttoinlandsproduktes auch. Davon abgesehen geben sich die russischen Behörden seit einigen Wochen sehr schweigsam, wie unter anderem das "Wall Street Journal" berichtet hatte. Die Staatsschulden werden nicht mehr beziffert, Handelsstatistiken unter Verschluss gehalten, die Ölproduktion verheimlicht.

Seit April veröffentlicht der russische Zoll auch keine Daten mehr zu monatlichen Importen und Exporten, wie die unabhängige russische Exil-Nachrichtenseite The Bell ergänzt. Schon seit März dürfen börsennotierte Konzerne mit Erlaubnis der russischen Regierung selbst entscheiden, welche Angaben sie der Öffentlichkeit präsentieren wollen und welche nicht. Die staatliche Luftfahrtbehörde schweigt sich seit Anfang Mai zu den Passagierzahlen aus.

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Auch die russische Zentralbank von Elwira Nabiullina beteiligt sich an dem Daten-Blackout. Sie macht seit März keine Angaben mehr zu den russischen Devisenreserven. Kleine und regionale Geldinstitute soll die Notenbank angewiesen haben, die Veröffentlichung der Einlagen und Guthaben zu reduzieren. In der Staatsduma arbeiten Abgeordnete derzeit an einem Gesetz, dass es russischen Banken verbieten würde, wichtige Finanzkennzahlen mit ausländischen Unternehmen zu teilen, auch wenn sie gemeinsam Geschäfte machen.

"Eiserner Wirtschaftsvorhang"

Viel Geheimniskrämerei, die es noch schwerer macht, einzuschätzen, wie schwer die Sanktionen Russland tatsächlich treffen. In vielen Fällen wüssten nicht einmal die Unternehmen selbst, ob und welche Lieferkette wo abgebrochen sei, erklärte der Politologe Alexander Libman von der Freien Universität Berlin bei ntv. Bei einem Großteil von Gütern und Waren werde man das erst in den kommenden Monaten feststellen.

Aber diesen Moment der Aufklärung, der den politischen Spitzen in Washington, Brüssel, Berlin, London und Paris möglicherweise neue Sanktionshebel aufzeigen würde, möchte die russische Führung mit ihrer Datensperre anscheinend verhindern. Moskau versuche, seine wirtschaftliche Situation zu vernebeln, berichten Ökonomen im "Wall Street Journal". Sie sprechen vom "Eisernen Wirtschaftsvorhang", der den Blick auf Lieferketten und Mangelware versperren soll.

Keine Nägel, keine Kosmetika

Nach Angaben von The Bell ist das aber nur eine Seite der Medaille. Die Nachrichtenseite zitiert anonyme Quellen, die davon ausgehen, dass die fehlenden Daten auch den Kollaps der russischen Wirtschaft übertünchen sollen. Ohne Zolldaten sei zum Beispiel nicht ersichtlich, wie gut - oder eher schlecht - es um russische Exporte bestellt ist; ohne Importdaten kann das Ausland schwer einschätzen, ob der russischen Industrie tatsächlich wichtige Bauteile für Panzer und Raketen fehlen, weshalb Kühlschränke und Geschirrspüler für neues Gerät geplündert werden müssen.

Denn aktuell sind vor allem Produkte knapp, bei denen Menschen zu Hamsterkäufen neigen, wie der Berliner Politologe Libman erklärt. Lebensmittel oder Medikamente zum Beispiel. Bis man großflächig Knappheiten bei Technologiegütern oder Konsumelektronik sieht, werde es noch dauern, ist der Russland-Experte überzeugt. Er prophezeit allerdings auch einen größeren Mangel an Waren des täglichen Bedarfs: Beispielsweise werden Kosmetika in Russland zu 90 Prozent aus importierten Inhaltsstoffen hergestellt, Zeitungen und Bücher auf importiertem Papier gedruckt, Nägel lediglich im Ausland eingekauft.

Sinkende Löhne, steigende Preise

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Denn seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich Russland wirtschaftlich vor allem auf seine natürlichen Rohstoffe und die Landwirtschaft konzentriert. Auf Erdöl, Erdgas, Weizen und Getreide. Industrie und Technologie rosten dagegen seit 30 Jahren vor sich hin, hat der frühere Weltbank-Ökonom Branko Milanovic vor kurzem in seinem Blog erklärt. "Fast alles, was fortschrittlich ist, hängt von westlicher Technologie ab", schreibt er.

Eine volkswirtschaftliche Fehlplanung, die sich in den wenigen Daten, die noch verfügbar sind, bereits abzeichnet. Im März wurden nach Angaben der russischen Statistikbehörde 72 Prozent weniger Autos hergestellt als vor einem Jahr. Auch bei Waschmaschinen und Kühlschränken ist die Produktion demnach um die Hälfte zurückgegangen. Je nach Schätzung und Quelle könnte die russische Wirtschaft in diesem Jahr um 8 bis 15 Prozent einbrechen.

Ein Absturz, der die russische Bevölkerung bald mit voller Wucht treffen wird, wie Politologe Libman erklärt. Viele Menschen hätten ihre Jobs bereits verloren, neue seien nicht in Sicht. Dafür sinkende Löhne und Renten, während Lebensmittel und Arzneien teurer werden.

Die Sanktionen seien verpufft, der "ökonomische Blitzkrieg" des Westens gescheitert, sagt der russische Präsident Putin. Propaganda, die sich mit Zahlen nicht untermauern lässt, auch wenn Russland den "Eisernen Wirtschaftsvorhang" zu schließen versucht.

"Wieder was gelernt"-Podcast

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

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Quelle: ntv.de

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