Wirtschaft

Totgesagte leben länger Gnadenfrist für Tegel

Otto Lilienthal dreht Willy Brandt eine lange Nase.

Otto Lilienthal dreht Willy Brandt eine lange Nase.

(Foto: dapd)

Die Menschen am Flughafen Tegel sind ratlos. Dass hier bald Schluss ist, soll plötzlich nicht mehr gelten. Fluglinien, das Bodenpersonal, Läden - alle müssen jetzt hastig dafür sorgen, dass es irgendwie weitergeht im Berliner Nordwesten. Bis wann? Weiß niemand. Und der Flughafengesellschaft, die den Start in Schönefeld verbockt hat, traut auch keiner mehr über den Weg.

Berlin, Flughafen Tegel. Es ist der Tag danach. Der Tag, nachdem hier die Bombe platzte. Heute ist klar: Die Piloten stellen in ihren Cockpits ein paar Wochen länger die Koordinaten auf Berlins Nordwesten ein, wenn sie Deutschlands Hauptstadt anfliegen. Der für Berlin und Brandenburg, im Südwesten, vor den Toren der Metropole, bleibt zunächst außer Betrieb.

Peinlich, peinlich: Aus dem ursprünglichen Termin wird nichts.

Peinlich, peinlich: Aus dem ursprünglichen Termin wird nichts.

(Foto: dapd)

Es ist eigentlich alles wie immer hier in dem 1960er-Jahre-Zweckbau in Tegel. Über die Korridore hetzen Männer im Anzug, ziehen ihre Rollköfferchen immer im Kreis, so wie es in dem sechseckig angeordneten Gebäude eben sein muss, will man vom Eingang zu den hintersten Gates gelangen. Schreiende Kinder zerren ihren Müttern am Arm, Rucksacktouristen versuchen vergeblich, das Tarifsystem des Berliner Nahverkehrs zu durchschauen. Es deutet wenig darauf hin, dass dieser Kosmos dem Untergang geweiht ist. Und dass er dem Tod für ein paar Wochen noch einmal von der Schippe gesprungen ist.

Doch auf den zweiten Blick wird klar: Noch kann hier kaum jemand fassen, was sich in den letzten 24 Stunden abgespielt hat. Und darauf einstellen schon gar nicht. Im Zentrum des Hexagons, das das alte Terminal des Airports darstellt, steht ein gigantischer Aufsteller. Auf ihm prangt in riesigen Lettern ein verfrühter Abschiedsgruß: "Danke, Tegel!", heißt es da. Und: "Am 2. Juni schließt der Flughafen Tegel, ab dem 3. Juni geht es nur noch einen Flughafen: den Flughafen Berlin Brandenburg."

Zeichen stehen noch auf Ausverkauf

Noch hat hier niemand die Zeit dazu gefunden, dieses Fanal des Scheiterns zu entfernen. In den kommenden Tagen werden die Spuren des Debakels dann nach und nach verschwinden. Ebenso wie die vielen kleinen Hinweise darauf, dass es hier in nur wenigen Tagen eigentlich nicht mehr weitergegangen wäre.

"Alles muss raus!", wirbt etwa die Flughafenapotheke. Nicht Verschreibungspflichtiges wird hier seit Tagen zum Sonderpreis verjubelt. Die Regale hinter dem Verkaufstresen sind schon dezimiert, schließlich sollten die Kisten zum Umzug nicht so schwer sein. Vor den übrigen Produkten steht Heike Wickenhöfer. Sie arbeitet hier und ist sichtlich um Fassung bemüht. "Gerüchte darüber, dass es zu Verzögerungen kommt, gab es hier immer wieder", erzählt sie. "Doch wir haben natürlich gedacht, dass wir als Betroffene als erste davon erfahren, wenn sich der Zeitplan ändert."

Doch Pustekuchen. Wickenhöfer wie auch alle andere Menschen, die am Tegeler Flughafen arbeiten, haben aus den Medien erfahren, dass Mängel am Brandschutz in Schönefeld einen Umzug Mitte Juni verhindern. Und das nur vier Wochen vor dem Tag X. Die Apotheke ist eines der Geschäfte, die mit umziehen. Nun müssen die Betreiber die Regale am alten Standort rasch wieder füllen und die Rabattaktion beenden.

Lufthansa spielt Probleme herunter

Von einer "unglaublichen Zumutung", spricht auch Nils Busch-Petersen vom regionalen Handelsverband. Viele Händler hätten Personal eingestellt und Kredite aufgenommen, um am neuen Standort pünktlich ihre Geschäfte zu eröffnen. "Das kann man nicht einfach schnell rückabwickeln", sagt er. Im Zweifel, habe der Flughafenbetreiber versprochen, gehe keiner pleite. Härtefallregelungen sollen das Schlimmste verhindern. Doch wie viel Vertrauen kann man haben in einen Geschäftspartner wie diesen?

In Tegel geht es weiter. Muss ja.

In Tegel geht es weiter. Muss ja.

(Foto: dapd)

Dabei ist der Einzelhandel nicht der einzige Wirtschaftszweig, der sich auf die neue Situation einstellen muss. Und auch sicherlich nicht die Branche, in der die größten wirtschaftlichen Schäden entstehen. Ein logistischer Kraftakt steht den Fluggesellschaften bevor. Die Flugpläne waren schon alle auf das neue Ziel zugeschnitten, Tickets an die Passagiere schon verkauft, die Umzugskisten gepackt. Nun muss mühsam alles wieder zurückgedreht werden.

Alleine bei der Lufthansa sind bis zu eine Million Fluggäste betroffen. Manager Oliver Wagner versucht zu beschwichtigen. Die Passagiere würden auf Tegel umgebucht, kein Problem, so der Tenor. Die Abflugzeiten würden sich dann höchstens im Viertelstundenbereich ändern, behauptet er. Alles wird gut. Über Schadenersatzforderungen gibt Wagner keine klare Auskunft. Man ahnt: Das dürfte nicht billig werden. Doch wer wem gegenüber regresspflichtig ist, ist noch lange nicht juristisch geklärt.

700 Vollzeit-Tür-Bediener sollten Termin retten

Auch beim Konkurrenten hegt man einen Groll auf die Airport-Manager. Der Lokalmatador rechnet mit erheblichen Mehrkosten, die er möglicherweise einklagen wird. Doch der finanzielle Verlust ist das eine. Der Verlust an Vertrauen ist das andere: Noch vor wenigen Tagen habe es einen Termin auf dem Flughafen gegeben, so Vorstandsmitglied Paul Gregorowitsch. Chef Rainer Schwarz sei da gewesen, auch Air-Berlin-Boss Hartmut Mehdorn. Da habe Schwarz noch versichert: Der Start-Termin 3. Juni steht.

Wie konnte sich das so rasch ändern? In einer Serie von Krisensitzungen beschlossen die Manager nur einen Tag später: Es geht doch nicht. "Fertigstellung und anschließende bauliche Abnahme der sicherheitstechnischen Anlagen bis zum geplanten Eröffnungstermin sind nicht mehr zu realisieren", heißt es in der Pressemitteilung, die das mittelschwere Beben ausgelöst hatte. Etwas verschleiernd ist die Botschaft überschrieben mit "Sicherheit hat Priorität". Als sei es reine Fürsorge, die das Unternehmen zur Verschiebung treibt.

Und immer mehr peinliche Details kommen ans Licht. So weiß man mittlerweile, welche Probleme es beim Brandschutz genau gegeben hat: Den automatischen Sicherheitstüren sei die Genehmigung verweigert worden, berichten die "Potsdamer Neuesten Nachrichten" und die "Bild"-Zeitung. Bis zum 21. Mai hätte noch nachgebessert werden können. Doch das war zu kurzfristig. Die offenbar angebotene Notlösung, dass 700 befristet Beschäftigte die Brandschutztüren vorübergehend manuell hätten bedienen können, verwarf die zuständige Behörde. Es wirkt alles sehr hilflos, was in diesen Tagen von der Betreiberfirma zu hören ist.

Zu Hause ist es immer noch am schönsten

Doch jetzt soll alles ins Reine kommen. Und bis "nach den Sommerferien", das würde in Berlin bedeuten: frühestens Anfang August, soll alles fertig sein. Dann könne der Flugverkehr wirklich über den BBI abgewickelt werden, verspricht die Flughafengesellschaft. Das genaue Datum folgt so bald als möglich. Aussagen, die nach den jüngsten Querelen wohl mit Vorsicht zu genießen sind.

Das sehen auch die Menschen am Flughafen Tegel so. So auch Apotheken-Angestellte Heike Wickenhöfer. Noch weiß auch sie nichts Genaues, ihr Chef muss sich auch erst einmal auf die neue Situation gefasst machen. Dann soll es aber eben verspätet rübergehen, wohl im August. Egal, was als Nächstes verkündet wird, Wickenhöfer ist skeptisch: "Wer weiß denn noch, wie verlässlich die Informationen sind."

Anderen kommt die Verschiebung gelegen. Ein weiterer Sommer Flugbetrieb in Tegel bedeutet für viele hier auch ein weiterer Sommer Arbeit in ihrem Berliner Heimatbezirk Reinickendorf. An einem der Gepäckabfertigungsschalter sitzen zwei Bedienstete des Bodenpersonals. Es ist nicht viel los, gerade hat eine Maschine von diesem Flugsteig aus abgehoben. Das Gespräch kommt auf das, was heute alle bewegt. "Ditt is'n Ding, wa?", tönt ein junger Angestellter. Seine Kollegin nickt nur zufrieden und sagt: "Mir soll das alles recht sein. Jeder Tag zählt für mich, ich wohne nur 10 Minuten von hier."

Quelle: ntv.de, mit dpa/DJ

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