Kritischer Moment in China Peking zügelt den Drachen
09.11.2011, 10:33 Uhr
Nach oben steigen die Preise: Schweinefleisch in der Auslage eines Händlers in Wuhan.
(Foto: REUTERS)
Die Steuerungsversuche der Wirtschaftslenker zeigen offenbar Wirkung: Der Preisauftrieb in China schwächt sich etwas ab. Der Wert, den die Statistiker für Oktober melden, bleibt allerdings nicht weit hinter den Pegelspitzen aus dem Sommer zurück. Die weltweite Unsicherheit macht sich bemerkbar: Die Industrie verliert an Schwung. IWF-Chefin Lagarde warnt die Chinesen vor einer "Spirale der Unsicherheit".
Die Inflation in China hat sich im Oktober deutlich abgeschwächt. Die Preissteigerungen gingen von 6,1 Prozent im Vormonat auf 5,5 Prozent zurück, teilte das Statistikamt in Peking mit.

Kurz vor der Öffnung: Der Wirtschaftsboom beschert der Volksrepublik wachsende Einkommensunterschiede. In Peking kann dieser europäische Sportwagenhändler mit einer ausreichenden Anzahl kaufkräftiger Kunden rechnen.
(Foto: dpa)
Das gibt der Geldpolitik der Zentralbank wieder etwas Spielraum, um auf konjunkturelle Risiken wie die Schuldenkrise in Europa und einen drohenden Einbruch der Exporte zu reagieren. Auch der Zuwachs der Erzeugerpreise schwächte sich überraschend stark auf 5 Prozent ab. Das sind 1,5 Prozentpunkte weniger als im Vormonat.
"Die Daten für den Verbraucherpreisindex im Oktober zeigen, dass die Preiskontrollen der Regierung anfangen, sich auszuzahlen", kommentierte Zhang Liqun vom Entwicklungsforschungszentrum des Staatsrates. Die Regierung müsse mit einer eventuellen Lockerung der Geldpolitik aber weiter vorsichtig sein und dürfe die Gefahr der Preissteigerungen nicht ignorieren, zitierte die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua die Einschätzung des staatlich angestellten Experten. Zhang Liqun sprach von einem kritischen Moment für die makroökonomische Kontrolle.
Aufstände wegen Reis und Schweinefleisch?
Die Regierung rechnet mit einer weiteren Abschwächung der Teuerung. "Der heimische Preisdruck hat seit Oktober merklich nachgelassen", sagte Ministerpräsident Wen Jiabao. "Die Preise für Schweinefleisch und Eier sind gefallen, aber die Preise für Milchprodukte, Rind- und Hammelfleisch verharren auf hohem Niveau." Lebensmittel sind der größte Preistreiber: Sie kosteten im Oktober im Schnitt 11,9 Prozent mehr als ein Jahr zuvor.
Um der aufkeimenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu begegnen, hat die Regierung in Peking deshalb zahlreiche Gegenmaßnahmen getroffen. Sie reichen von Razzien gegen Wucherer bis hin zu Strafen für das Horten von Lebensmitteln. Peking befürchtet soziale Unruhen, weil teure Nahrungsmittel Hunderte Millionen arme Menschen treffen, die einen Großteil ihres Geldes für das tägliche Brot ausgeben. Beobachtern zufolge hatten im Jahr 1989 nicht zuletzt auch die steigenden Reispreise zu den massiven Protesten gegen die Regierung beigetragen, die schließlich blutig niedergeschlagen wurden.
Wen setzt auf mehr Produktion
Im Kampf gegen die Inflation hatte die Zentralbank ihren Leitzins seit Oktober 2010 fünfmal auf aktuell 6,56 Prozent angehoben. Sie zog außerdem viel Geld aus dem Wirtschaftskreislauf: Sie hob die Reserven, die die Geschäftsbanken bei ihr hinterlegen müssen, auf ein Rekordniveau an. "Der nachlassende Preisdruck gibt der Notenbank Spielraum für einen Feinschliff", sagte Nomura-Analyst Zhang Zhiwei. Die meisten Experten erwarten keine Zinssenkungen, dafür aber geringere Reserveanforderungen. Allerdings dämpfte die Notenbank die Hoffnung auf einen raschen Kurswechsel. "Die Richtung sollte nicht geändert werden", sagte ihr Berater Li Daokui.
"Der beste Weg, die Preise unter Kontrolle zu halten, ist eine Steigerung der Produktion", sagte Regierungschef Wen. Die aber ist zuletzt langsamer gewachsen. Denn mit Schwierigkeiten muss China nicht nur im Inland rechnen: Die weltweite schwächelnde Nachfrage macht sich mittlerweile auch in der stark boomenden chinesischen Industrie bemerkbar.
Der China-Boom bekommt Risse
Die Produktion legte im Oktober mit 13,2 Prozent etwas weniger kräftig zu als im Vormonat. Im September hatte das Wachstum noch 13,8 Prozent betragen. Analysten hatten aktuell ein Plus von 13,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr vorausgesagt.
Der Exportweltmeister spürt die Flaute bei seinen wichtigsten Handelspartnern, der Europäischen Union und den USA. Die heimische Nachfrage entwickelt sich ebenfalls nicht ganz so dynamisch wie erwartet. Der Einzelhandelsumsatz legte um 17,2 Prozent zu und blieb damit hinter den Analystenerwartungen zurück.
Auch das Wirtschaftswachstum schwächte sich ab: Im dritten Quartal wuchs die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt mit 9,1 Prozent so langsam wie seit über zwei Jahren nicht mehr.
Lagarde verteilt Warnungen
Die Chefin der Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, warnte bei einem Besuch in China vor einer weltweiten "Spirale der Unsicherheit und finanzieller Instabilität". Auch die Staaten Asiens seien nicht immun gegen Probleme, wie sie derzeit in der Eurozone aufträten, sagte sie bei einem Besuch in Peking. Die Krise betreffe "alle gemeinsam". Chinas Führung rief Lagarde dazu auf, ihre Währung nicht künstlich niedrig zu bewerten, um heimischen Exporteuren das Geschäft zu erleichtern.
Die Wechselkursfrage hat sich zum derzeit wichtigsten wirtschaftspolitischen Streitpunkt zwischen China und den USA entwickelt. Washington versucht Peking seit Jahren dazu zu bewegen, den Yuan-Kurs freizugeben. Im Verhältnis zum Dollar würde die chinesische Währung im Fall einer Freigabe voraussichtlich stark aufwerten. Aus der Sicht chinesischer Unternehmen würde das Exportgüter aus den USA attraktiver machen. Experten versprechen sich davon einen starken Stimulus für die US-Wirtschaft, was unter Umständen auch den Arbeitsmarkt aus der Phase der Stagnation lösen könnte.
IWF-Chefin Lagarde hält sich zu einem zweitägigen Besuch in China auf. Wen sie in Peking treffen will, war zunächst unklar. Zuvor hatte die IWF-Chefin Russland besucht und auch die dortige Führung zur Zusammenarbeit im Kampf gegen die Eurokrise aufgerufen. Von beiden Ländern erhofft sich die Eurozone Investitionen in Fonds zur Stabilisierung der europäischen Gemeinschaftswährung.
Quelle: ntv.de, mmo/AFP/dpa/rts