Inside Wall Street Das vierte Quartal beginnt
01.10.2012, 14:11 Uhr
Steigen die Kurse weiter?
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Das Schlussquartal des Jahres läuft - und wieder stellt sich die Frage, ob die Kurse an der Wall Steet weiter steigen können. Dabei wird ein Thema von Tag zu Tag entscheidender: die Präsidentschaftswahlen im November.
Würde nicht ab und an ein kräftiges Gewitter über New York niedergehen, dann müsste die Wall Street in einer dichten Staubwolke versinken – aufgewirbelt von einer Herde Bullen, die seit einem Jahr wie wild durch die Finanzmärkte gebrettert sind. Woher sie ihre Energie nehmen, ist unklar, ihre Kraft ist aber nicht zu unterschätzen.
Ein Blick auf die Kurstafel an der New York Stock Exchange offenbart Erstaunliches. In den letzten drei Monaten hat der Dow Jones um fast tausend Punkte zulegt, für die letzten zwölf Monate verzeichnen die Blue Chips ein Plus von dreitausend Zählern. Das sind rund 30 Prozent, die amerikanische Aktien in einem Jahr zugelegt haben, in denen sich die Konjunktur nicht allzu sehr stabilisiert hat und in der die wirtschaftlichen Aussichten für die USA (und für die Partner in Asien und Europa) alles andere als rosig sind.
Kurspessimisten haben es schwer an der Wall Street. In einem Markt, der sich längst von unternehmerischen und konjunkturellen Realitäten abgekoppelt hat, haben sie zu oft und zu laut vor einer unmittelbar bevorstehenden Korrektur gewarnt. Der Autor dieser Zeilen bezieht sich schuldbewusst mit ein. Wer zu oft grundlos "Wolf!" ruft, auf den hört man letztlich nicht mehr – das wusste schon Äsop. Wir haben in den letzten Jahren sehr oft "Wolf!" gerufen, die Märkte haben trotzdem die größte Rallye seit Menschengedenken hinter sich.
Und doch: Vor dem vierten Quartal darf man sich schon fragen, wie weit die Kurse noch klettern können.
Konjunktursorgen bleiben
Der Dow Jones, der sich seit 2009 im Wert verdoppelt hat und der nur wenige Punkte unter seinem Allzeithoch notiert, handelt ja nicht losgelöst von Politik und Wirtschaft. Der Index mag sein Umfeld nicht mehr so widerspiegeln, wie das in Zeiten vor dem Hochfrequenzhandel der Fall war, aber irgendwie müssen die Kurse letztlich ja mit den Unternehmensgewinnen zusammengehen, und die Gewinne können nicht dauerhaft aus Kostensenkungen kommen. Also: Was erwartet die Wall Street für die bevorstehende Ertragssaison, und noch wichtiger: Was erwarten Anleger im vierten Quartal?
Für die Ertragssaison kann man weiter nur auf Ertragssteigerungen hoffen, die ihre Ursache im großen Streichkonzert haben. Stellenabbau, Abschreibungen, alles hilft, was die Marge hebt – jedenfalls kurzfristig. Auf mehr kann man im Moment nicht bauen, zuletzt etwa auf steigende Produktnachfrage. Corporate America hält sich nicht grundlos mit Investitionen zurück, sondern weil der Verbraucher nicht mitzieht. Der Verbraucher leidet unter dem schwachen Arbeitsmarkt, und das bekommt die Industrie zu spüren. Die jüngsten Daten aus dem produzierenden Gewerbe, waren mager, egal ob sie in New York, Philadelphia oder Chicago ermittelt wurden. Auf dem Immobilienmarkt herrscht Flaute, und mit Blick auf globale Zusammenhänge machen es die Unsicherheit in der Euro-Zone, die Konjunkturschwäche in China und Japan und die Unruhen im Nahen Osten selbst Berufsoptimisten schwer, weitere Kursanstiege zu begründen.
Romney fordert Obama heraus
Und über allem schwebt die US-Politik. In sechs Wochen wird gewählt, und die Wirtschaftskonzepte von Präsident Barack Obama und seinem Herausforderer Mitt Romney könnten unterschiedlicher nicht sein. In den Umfragen hat Obama zur Zeit klar Oberwasser, für das Team Romney/Ryan sieht es düster aus. Schlecht für die Börse, sollte man meinen. Immerhin hat die Wall Street den Republikanern rund fünfmal so viel Wahlkampfspenden überwiesen wie den Demokraten. Die großen Namen der Finanzbranche, Goldman Sachs, Citi, JP Morgan, Bank of America, sie alle finanzieren Romney, der ihnen eine weitere Deregulierung ihres Sektors versprochen hat und damit die Chance auf höhere Gewinne mit riskanteren Geschäften – abgesichert durch den Steuerzahler.
Man fragt sich, wie in der Chefetage der Finanzriesen tatsächlich argumentiert wird. So schön sich Deregulierung für die Branche anhört, so riskant sind die Geschäfte und so unsicher die Erträge. Und: Wie lange kann der Finanzsektor blühen, wenn rundherum im Land die Mittelklasse ausstirbt? Sind die Wahlkampfspenden für Romney vielleicht nur ein Hedge? Baut man im Finanzsektor vielleicht doch auf eine zweite Amtszeit für Obama? Der könnte, immer noch abhängig vom Kongress, seine Wirtschaftspolitik weiterführen, die letztlich über höhere Steuern für Reiche und über durchdachte Investitionen das Land langfristig stabilisieren sollte. Das dürfte einige Unternehmen im Banken- oder im Energiesektor etwas Geld kosten, die Reichsten im Lande würden zur Kasse gebeten, aber langfristig könnte Amerika aus der Rezession kommen und ein neues Fundament finden.
Für die Finanzriesen wäre ein Wahlsieg von Mitt Romney ein Garant für zumindest kurzfristig bessere Geschäfte und höhere Gewinne. Für die amerikanische Wirtschaft wäre ein Sieg von Barack Obama ein Pfad aus der Krise. Für die Kurse an der New York Stock Exchange lässt sich der Weg durch das vierte Quartal nicht vorhersagen. Eigentlich müsste man mal wieder mindestens vor Gewinnmitnahmen, eher vor einer Korrektur warnen... aber das hatten wir je schon, und der Wolf hat an der Wall Street schon länger nicht mehr vorbeigeschaut.
Quelle: ntv.de