Inside Wall Street Die Mär von der Truthahn-Inflation
28.11.2013, 14:42 Uhr
(Foto: REUTERS)
Das Erntedankfest ist in den USA ein willkommener Anlass, vor kräftig steigender Inflation zu warnen. Grundlage ist der beliebte Truthahn-Indikator, der dieses Jahr allerdings auf sinkende Preise hindeutet. Inflationspanik wird dennoch geschürt.
Bis heute haben sich die Amerikaner nicht auf die Ursprünge von Thanksgiving geeinigt. Der höchste Feiertag im US-Kalender, der für ein langes Wochenende mit rekordverdächtigem Reiseverkehr, Horrorstaus und Flugchaos sorgt, soll erstmals 1621 gemeinsam von Indianern und Pilgern begangen worden sein… möglicherweise haben aber bereits Indianer im 16. Jahrhundert eine ähnliche Erntedank-Tradition im Gebiet des späteren Staates Texas gefeiert.
Wie auch immer, die heutige Tradition des Erntedanks schließt einen Truthahn ein, der je nach Geschmack mit Kartoffeln oder Gemüse gefüllt ist. Dazu gibt es die in den USA weit verbreitete Moosbeere, verschiedene andere Beilagen und obendrauf eine Kürbis-Pie. Nach dem Festschmaus fällt der Ami in einen tiefen Schlaf – Schuld ist einerseits das Tryptophan, das im Truthahn ungewöhnlich stark vertreten ist, andererseits die schiere Magenschwere, denn das traditionelle Dinner ist eine Völlerei über mehrere Stunden.
Inflation als Dauerthema
Weniger traditionell aber doch zuverlässig gehört zu Thanksgiving das große Jammern über die Inflation. Denn pünktlich zum Fest gibt die American Farm Bureau Federation, der Industrieverband der Bauern, einen Bericht über die Entwicklung der Agrar- und Lebensmittelpreise aus, der einen Thanksgiving-Warenkorb einschließt. Darin ist ein Truthahn enthalten, alle möglichen klassischen Beilagen, gerechnet auf 10 Personen. In diesem Jahr kostet der Spaß 49,04 Dollar – rund ein Prozent weniger als im Vorjahr.
In den amerikanischen Medien hört sich das freilich anders an. Das "Wall Street Journal" etwa warnt vor extremer Inflation und malt ein Horrorszenario, bei dem der Truthahn samt Beilagen deutlich teurer geworden ist. Im morgendlichen Geschnatter auf dem Börsensender CNBC macht man Rechenfehler, vergisst darüber hinaus, die Preisentwicklung an die allgemeine Inflation zu knüpfen, und sieht einen Preisanstieg um drei Prozent. Allein die Online-Leser bekommen die richtigen Zahlen serviert, wenn auch mit dem warnenden Hinweis, das abgesehen vom Turkey-Dinner alle weiteren Lebensmittelpreise im allgemeinen gestiegen seien.
All die Panikmache kritisiert Ryan Chittum von der Columbia Journalism Review. Wenige Tage vor dem Fest schimpfte der Medienkritiker in einem Interview mit dem Radiosender NPR, dass es sich Journalisten zu leicht machen. Komplexe und abstrakte Wirtschaftsthemen an einfache Beispiele zu knüpfen, ist dabei sicher nicht falsch. Mit übertriebenen oder unpräzisen Zahlen das Inflationsgespenst herbeizuzaubern, ist indes kein Dienst am Leser. Zumal man sich durchaus fragen darf, ob Truthahn und ein paar Beeren als Inflationsindikator eine Berechtigung haben. Eher nicht, sollte man meinen – wer sich über die Preisentwicklung beim Verbraucher informieren will, der wäre wohl mit dem monatlichen Bericht über die Verbraucherpreise und einem Blick auf den Ölpreis besser bedient.
Wachsende Armut
Aber Truthahn hin und Inflation her, eine wirtschaftliche Seite lässt sich den Thanksgiving-Schmaus immer abgewinnen. Das Weiße Haus nutzt den Feiertag, um auf die steigende Armut in Amerika hinzuweisen. Gerade erst hat sich der Kongress in ein langes Wochenende verabschiedet, ohne sich auf eine Verlängerung der "Farm Bill" zu einigen, in der Agrar-Subventionen ebenso geregelt werden wie Lebensmittelmarken. Letztere sind ein Streitpunkt in Washington. Die Republikaner wollen in den nächsten 10 Jahren satte 40 Milliarden Dollar kürzen – die Demokraten halten dagegen, dass durch die angestrebten Abstriche 3,8 Millionen Amerikaner in der untersten Einkommensschicht ihren Zugang zu Lebensmittelmarken verlieren würden. Das Thema ist nicht neu: Wieder einmal wollen die Republikaner im sozialen Bereich kürzen und bei Hilfsleistungen an die Ärmsten im Lande sparen, nur um den Haushalt auch ohne Steueranhebungen bei den Reichen in den Griff zu bekommen.
Die Unverfrorenheit, mit der die Republikaner bei den Armen sparen, spiegelt sich in der jüngsten Aktion der Supermarktkette Walmart. Der größte Einzelhändler der Welt, dessen Erben vier der zehn reichsten Amerikaner stellen und dessen gute Geschäftsergebnisse unter anderem darauf zurückzuführen sind, dass man den Mitarbeitern Hungerlöhne zahlt, hat in einigen Geschäften besser gestellte Mitarbeiter gebeten, Lebensmittelspenden für die ärmeren Kollegen bereitzustellen, um denen ein würdiges Thanksgiving zu ermöglichen. Den gleichen Effekt könnte Walmart erreichen, wenn man seinen Mitarbeitern vernünftige Löhne zahlen würde – so viel Solidarität ist aber nicht einmal am Feiertag drin.
Quelle: ntv.de