Inside Wall Street Die Schlafsack-Revolution
05.10.2011, 07:20 Uhr
Wer Revoluzzer spielen will, braucht einen gesunden Schlaf.
(Foto: REUTERS)
Konsum? Kapitalismus? "Es gibt keine Wirtschaft auf einem toten Planeten", protestieren Hunderte an der Wall Street. Eine Art des "arabischen Frühlings" ist auch in den USA angekommen - am New Yorker Liberty Square im Herbst.
Acht Uhr morgens, Liberty Square: Unter blauen Plastikplanen erwacht der Protest einer Generation. Ganz langsam, einer nach dem anderen, schälen sich die Demonstranten aus ihren Schlafsäcken. Sie gähnen. Sie frösteln. Es ist kalt geworden in New York, doch wer für die Freiheit kämpft, gegen Konsum und Kapitalismus, der darf nicht zimperlich sein.
In dem kleinen Park im New Yorker Finanzviertel harren einige hundert Demonstranten nun schon seit drei Wochen aus. Sie haben kalte Nächte überstanden, viel Regen und unerwartet brutale Aktionen der New Yorker Polizei, die vor ein paar Tagen ohne ersichtlichen Grund vier junge Frauen mit Pfefferspray außer Gefecht setzte. Der Aufruf der Demonstranten: "Occupy Wall Street" (Besetzt die Wall Street) Das Zentrum der globalen Finanzmärkte und die New Yorker Börse liegen nur ein paar Meter südlich. Alles ist großräumig abgesperrt und verbarrikadiert. Überall ist Polizei, doch die Demonstrationen verlaufen friedlich, wenn auch etwas planlos.
Spaß und Verbitterung
Was laut Organisatoren eine "amerikanische Version des Tahrir Square" werden sollte, erinnerte in den letzten Tagen eher an ein Sommercamp für Studenten und Alt-Hippies als an die verzweifelten Proteste in Äqypten. Trotz der offensichtlichen Verbitterung der Demonstranten über das System und trotz ihrer erklärten Absicht, die Tyrannei von "Corporate America" und die Korruption in Washington zu stoppen, stehen am Liberty Square doch Spaß und Unterhaltung im Mittelpunkt. Mitten auf dem Platz findet sich jeden Nachmittag ein Trommelkreis ein, junge Männer mit Rastalocken zupfen an ihren Gitarren, ein paar Leute lassen Hulahoop-Reifen kreisen, und zwei Mädchen heizen der Menge als Cheerleader ein - sie sind derart außer Atem, dass ihre Slogan kaum zu verstehen sind. Egal, denn die Busse und Taxis, die sich langsam den Broadway entlangquälen, übertönen sowieso alles.
Vom "arabischen Frühling", der mit Verzweiflungstaten wie der Selbstverbrennung des Straßenhändlers Mohammed Bouazizi begann, sind hier nur ein paar Grundgedanken übrig geblieben. Und auch die sind nicht vollständig formuliert. Jeden Tag werden neue Sprüche auf Pappschilder gepinselt. Da steht: "Es gibt keine Wirtschaft auf einem toten Planeten" und "Seize the Day". Man steht ein für Weltfrieden, Umweltschutz und Gewerkschaften, gegen die Banken, den Bailout großer Finanzkonzerne auf Kosten der Steuerzahler, aber auch - etwa zusammenhanglos - gegen die Israel-Politik der US-Regierung.
Soros, Sarandon, Moore

Zombies an der Wall Street: Die Proteste nehmen das kapitalistische Wirtschaftsgebaren auf die Schippe.
(Foto: REUTERS)
Während sich manche noch aussuchen, wofür oder wogegen sie protestieren, ziehen andere in vollem Ornat los. Am Dienstag ist es ein Umzug von Zombies, kreideweiß, die sich von falschen Geldscheinen ernähren. Andere nehmen derweil Nachhilfe in Sachen Grundrechte. Jason Ahmadi, 26 Jahre alt und Aktivist mit jahrelanger Erfahrung "in verschiedenen Kampagnen", klärt auf: "Zieht euch warm an. Im Gefängnis kann es sehr kalt werden. Und ein dicker Pullover kann notfalls auch zum Kissen umfunktioniert werden." Er rät Demonstranten, im Falle einer Verhaftung umgehend einen Anwalt anzurufen - "erst danach deine Mutter. Die macht sich vielleicht Sorgen, aber der Anwalt ist wichtiger".
Zahlreiche Anwälte haben bereits angeboten, den Demonstranten vor Gericht beizustehen. Sie tragen grüne Baseball-Käppis und geben ihre Telefonnummer an jeden, der sie haben will. Auch von anderer Seite bekommen die Revolutionäre Unterstützung: von Promis. Der Großinvestor George Soros hat offen seine Sympathie bekundet. "Ich kann ihre Gefühle verstehen", sagte Soros. Auf der einen Seite müssten etwa Kleinunternehmer mit immer höheren Zinsen für ihre Kreditkarten kämpfen, auf der anderen Seite fahre die Finanzbranche riesige Gewinne ein und händige üppige Bonuszahlungen aus. Auch der Aktivist und Filmregisseur Michael Moore und die Schauspielerin Susan Sarandon kamen schon am Liberty Square vorbei.
Die Promis sind willkommen, denn sie garantieren Medienpräsenz. Mittlerweile haben alle großen Fernsehsender eine Präsenz nahe der Demonstranten. Kamerateams von ABC und NBC interviewen Jugendliche nach der morgendlichen Vollversammlung. Angesichts der landesweiten Berichterstattung mein ein Aktivist: "Wir haben schon gewonnen." Ein anderer sagt: "Es fängt gerade erst an."
Quelle: ntv.de