Die Busch-Trommel Schwielen auf der Seele
05.04.2011, 06:21 UhrDie Aktienkurse sind auf dem Weg zu alten Rekordhöhen, während gleichzeitig das Umfeld der Börse so unsicher ist wie schon lange nicht mehr. Die Anleger aber scheint das nur wenig zu interessieren. Sie haben offenbar Schwielen auf ihren Seelen.
Der größte denkbare Atomunfall ist für Japan längst Wirklichkeit mit allen unmittelbaren und künftigen Konsequenzen für die Bevölkerung und die Wirtschaft des Landes. Aber die Börse denkt lediglich an Kurschancen, die im künftigen Wiederaufbau Japans liegen. Offenbar wirken die positiven Erfahrungen des Jahres 1995 nach, als das Erdbeben von Kobe der japanischen Bauwirtschaft hohe Gewinne bescherte. Doch schwerer als zerstörte Straßen und Gebäude wiegen diesmal die menschlichen und wirtschaftlichen Folgen einer atomaren Verseuchung, nicht weit entfernt von der Millionen-Metropole Tokio.
In den arabischen Ländern steht nach den erfolgreichen Revolten in Tunesien und Ägypten jetzt vielleicht der Sturz des libyschen Terrorregimes bevor. Jeder vernünftige Mensch kann sich ausrechnen, dass diese Umwälzungen wie ein Flächenbrand weitere Regierungen im ölreichen Nahen Osten erfassen werden. Und keiner weiß, in welche Richtung die heutigen Helden des Aufstands morgen mit modernsten Waffen marschieren werden. Aber die Finanzmärkte setzen schon jetzt auf eine Beruhigung am Ölmarkt.
In Deutschland droht eine gesicherte Energieversorgung im rauschhaften Jubel über die jüngsten Wahlerfolge der Antiatombewegung unterzugehen. Mit absehbaren Folgen für die Stromkosten in der Industrie und den privaten Haushaltungen. Diese überhastete Entwicklung wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit negativ auf die Kaufkraft der Bürger und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie auswirken. Ganz zu schweigen von den daraus entstehenden Belastungen für die Haushalte des Bundes und der Länder infolge höherer Arbeitslosigkeit, sinkender Unternehmensgewinne und drohender Schadensersatzforderungen aus der Atomwirtschaft. Die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Begrenzung der Staatsschulden kann man schon heute getrost in den Papierkorb werfen, wo bald wohl auch die ehrgeizigen deutschen Pläne für eine Klimaverbesserung landen werden.
Risiken über Risiken
Die Börse aber kümmert das offensichtlich kaum. Ebenso wenig die jüngsten leichtfertigen Versprechungen der Bundeskanzlerin, hoch verschuldete Partnerländer in der Eurozone notfalls mit deutschen Milliardenhilfen im Grunde unbegrenzt zu unterstützen. Vermutlich so lange, bis ein hoffnungslos überschuldetes Deutschland selbst der Hilfe bedarf.
Erinnert sei zudem an den aufkommenden Gegenwind aus China. Wenn die Regierung dort weiterhin auf die Bremse tritt, um die Inflation im eigenen Land zu stoppen, wird das nicht ohne Folgen für den deutschen Export bleiben. Auch scheint die unmittelbar bevorstehende Wende in der europäischen Notenbankpolitik niemanden mehr zu bekümmern. Steigende Notenbankzinsen werden aber nicht zuletzt auch die Finanzierungskosten der Wirtschaft erhöhen und folglich die Gewinne der börsennotierten Unternehmen belasten.
Risiken über Risiken! Und trotzdem begeben sich die Anleger offenbar frohen Mutes auf Schnäppchenjagd an den Aktienmärkten. Warum auch nicht? Sind doch alle diese Ereignisse und Bedrohungen längst bekannt und in den Kursen enthalten, beruhigen die Analysten, versprechen die Charts weiterhin eine stabile Hochdruckzone. Was heute zählt, ist die unmittelbare Zukunft der Wirtschaft, und die sieht doch gut aus. Oder? Offenbar sind die Verwundungen der jüngsten Finanzkrise weitgehend vernarbt, werden die Gefahren von den schmerzunempfindlichen Anlegern nicht mehr wahrgenommen.
Informationsflut
Ist diese gleichgültige Einstellung auch mehr als nur problematisch, so ist sie doch durchaus verständlich. Seit Jahren werden wir von der Politik und den Massenmedien mit ständig wechselnden Ankündigungen und Beschlüssen irgendwelcher Gremien versorgt. In jedem Augenblick des Tages und der Nacht erreichen neue Katastrophenbilder unser Hirn, empören uns Skandale aus den entferntesten Winkeln dieser Welt oder aus dem Lebensmittelgeschäft direkt an der Ecke, werden Ängste geweckt und umgehend wieder durch neue Ängste verdrängt.
Eine nachhaltige Anteilnahme, eine Gewichtung der Ereignisse, ein Nachdenken über Gründe und mögliche Folgen, das alles ist angesichts dieser täglich wechselnden Informationsflut überhaupt nicht möglich. Vielleicht auch gar nicht gewollt. Denn je intensiver wir Bürger von Politik und Boulevardpresse mit aufregenden Meldungen und Bildern überschüttet werden, desto flüchtiger richten wir notgedrungen unser Augenmerk auf politische Entscheidungen, die ganz unauffällig im Schatten des Spektakulären, Sensationellen gefällt werden. Unser Hirn verfügt halt nur über eine beschränkte Kapazität.
Wer mag sich schon groß über die drohenden Kosten der deutschen Euro-Rettung aufregen, angesichts der nuklearen Katastrophe in Japan? Wer fragt angesichts der lärmenden Aufgeregtheiten um das Wohl und Wehe der schwarz-gelben Koalition in Berlin nach dem Sinn deutscher Milliardensubventionen für eine Solartechnik, die vor allem in China Arbeitsplätze schafft? Die Schwielen auf den Seelen der Bürger erleichtern auch der Politik das Regieren.
Quelle: ntv.de