Neurologin Klein bei ntv "Dunkelziffer lag anfangs bei 90 Prozent"
20.05.2021, 14:45 Uhr
Die Hygieneregeln, darunter die Maskenpflicht, haben gewirkt, sagt Professorin Klein.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die Neurologin Christine Klein hat in Lübeck eine beispiellose Corona-Langzeit-Studie vorgelegt. Darin finden sich Erkenntnisse darüber, wie stark die Dunkelziffer sank, wie stark die Immunität Infizierter ist, und was beim Infektionsschutz half.
ntv: Sie haben 3000 Lübeckerinnen und Lübecker über ein Jahr begleitet, mit PCR-Tests und Antikörpertests. Was ist dabei rausgekommen?
Christine Klein: Insgesamt sind da etwa 20.000 PCR- und Antikörpertests rausgekommen und etwa 100.000 Fragebögen per App ausgefüllt worden. Eines der wichtigsten Ergebnisse ist, dass sich insgesamt nur 3,5 Prozent der Lübeckerinnen und Lübecker über den gesamten Zeitraum von einem Jahr, März 2020 bis Februar 2021, mit dem Coronavirus infiziert haben. Also weit, weit weg von der Herdenimmunität.
Sie haben auch Erkenntnisse über die Dunkelziffer gesammelt. Erklären Sie mal.
Wir sind die einzige Ärztestudie, die ein ganzes Jahr getestet hat, von Beginn der Pandemie an. Zu Anfang war es so, dass 90 Prozent all derer, die sich tatsächlich infiziert hatten, das nicht wussten. Das heißt, die Dunkelziffer lag bei 90 Prozent. Das Spannende ist, jetzt, zum Ende der Studie, letzter Zeitpunkt war Februar, dass sie auf 30 Prozent gesunken ist. Das heißt, nur noch einer von dreien wusste nicht, dass er die Infektion hatte. Das ist natürlich den vielen Tests zuzuschreiben. Auf der anderen Seite gab es immer noch manche, die es heute immer noch nicht wissen und unerkannt die Infektion haben.
Wenn man dann die Kenntnis hat, was sagt denn das darüber aus? Sind die tatsächlichen Infektionen über die Zeit so gestiegen oder haben wir einfach mehr getestet, und deshalb ist mehr ans Licht gekommen?
Genau, das ist eine Folge des Testens. Das ist ein sehr schöner Erfolg, dass wir möglichst viele Menschen erkennen, die sich angesteckt haben. Zum Glück haben wir jetzt die dritte Welle gebrochen. Die Zahlen zwischendurch waren ja extrem niedrig, insbesondere in den Sommermonaten letztes Jahr. Wenn man jetzt aber die erste Welle betrachtet, wo wir 90 Prozent Dunkelziffer hatten, da müssten wir natürlich einiges drauflegen, da wurde die tatsächliche Infektionsrate deutlich unterschätzt.
Was Sie auch beobachten konnten, ist, welche Auswirkungen Öffnungen und Lockerungen hatten. Welche sind das?
Es stellte sich heraus, dass der Kontakt mit einem Covid-Patienten der größte Risikofaktor war, sich zu infizieren. Das ist jetzt nicht überraschend. Umgekehrt war aber überraschend, dass Dinge wie die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Kinder in der Schule, Tourismus über die gesamten Sommermonate keinen Einfluss auf das Infektionsgeschehen hatten. Das muss man allerdings vor dem Hintergrund sehen, dass wir zu dem Zeitpunkt wirklich sehr niedrige Werte hatten, niedriger als jetzt. Und natürlich griffen die Maßnahmen. Wir hatten zwar keinen Lockdown, aber die Hygienemaßnahmen, Abstandsregeln et cetera, darf man nicht vergessen. Unter den Bedingungen war es letzten Sommer offensichtlich sicher, all diese Dinge hier tun zu können.
Wir lockern ja jetzt bei einer Inzidenz von unter 100. Würden Sie sagen, wenn Sie das vergleichen mit der Studie, dass das ein guter Zeitpunkt ist, um zu öffnen?
Ja, ich halte das absolut für vertretbar. Die Situation ist auch nur bedingt vergleichbar. Wir hatten letztes Jahr keinen so guten Überblick über die Zahlen. Wir hatten lange nicht so ein gut etabliertes Testsystem, wir hatten keine Luca-App. Wir hatten ganz viele Dinge nicht, die wir jetzt alle haben, die uns jetzt alle helfen können. Alles das zusammen erlaubt uns jetzt solche Schritte. Das zeigt auch unsere Studie. Aber natürlich, eine kleine Warnung im Hinterkopf ist da: Das Virus wird nicht weggehen und wird sich gerne, auch im Sommer, ausbreiten wollen. Wir müssen einfach auf der Hut bleiben.
Sie haben auch beobachtet, wie sich bei Menschen, die sich infiziert haben und wieder genesen sind, die Antikörper entwickelt haben. Was gibt es da zu berichten?
Es ist so, dass eigentlich alle Menschen, die Antikörper hatten, diese auch behalten haben. Sie sind ein wenig abgesunken über den Verlauf von mehreren Monaten. Je nachdem, wann die Antikörper positiv waren, überblickten wir vielleicht auch mal nur drei Monate, aber überall sieht man so eine leichte Abwärtstendenz. Aber alle behielten ihre positiven Antikörper über die Zeit, bis auf ein, zwei Ausnahmen. Und was noch interessant ist, im Februar hatten wir schon eine ganze Reihe von geimpften Personen unter unserer Studienkohorte. Da haben wir zwar keinen Langzeitverlauf, aber sie haben insgesamt höhere Antikörpertiter als die, die eine natürliche Infektion durchgemacht haben. Was aber keiner bisher weiß, ist, ob überhaupt eine direkte Korrelation zwischen der Höhe der Antikörpertiter und dem Infektionsschutz besteht. Das muss man in neuen Studien noch rauskriegen.
Lübeck und Schleswig-Holstein sind mit vergleichsweise geringeren Infektionszahlen durch die Pandemie gekommen. Inwiefern kann man Ihre Erkenntnisse, aus dieser Lübecker Studie, auf ganz Deutschland beziehen?
Dieser regionale Aspekt ist ein ganz, ganz wichtiger. Man muss da vorsichtig sein mit ganz allgemeinem Hochrechnen. Aber ich kann durchaus sagen, dass wir für die Zeit der niedrigen Inzidenz sehr deutlich zeigen konnten, dass es dort keine Gefahr gab und kein höheres Infektionsgeschehen ausgelöst wurde. Auch durch die erhöhte Mobilität in Schleswig-Holstein hatten wir, nach Google-Daten, die höchste Mobilität, außerhalb zu den Fahrten zur Arbeit. Also, die höchste Mobilität im Bereich Tourismus, viel höher auch als in Bayern. Hier war richtig was los, hier waren viele Leute unterwegs. Aber mit den niedrigen Inzidenzen und den Vorsichtsmaßnahmen hat das geklappt. Das, so hoffen wir zumindest, ist bundesweit auch möglich, aber eben auch nur unter solchen Bedingungen.
Mit Christine Klein sprach Katrin Neumann.
Quelle: ntv.de