Keine Reformen, dafür Dauerkrieg Ukraine steht vor heißem Herbst
06.08.2015, 22:15 Uhr
Ukrainische Polizisten bewachen 2,5 Tonnen Bernstein, der illegal abgebaut worden war.
(Foto: AP)
Krieg im Osten und eine Wirtschaftskrise im ganzen Land: Die Lage ist alles andere als rosig in der Ukraine. Mehr als die Hälfte der Ukrainer erwägt eine Auswanderung, und auch im Westen wächst die Ungeduld.
Als die schwer bewaffneten Kämpfer des berüchtigten Freiwilligenbataillons Aidar mit ihrem Panzer eine Leninstatue in der Ostukraine rammen, haben sie wohl nicht mit einem Aufruhr gerechnet. Das Denkmal ist für sie ein störendes Symbol des Kommunismus, das nicht zu einem in die EU strebenden Land passt.
Doch kurz darauf umringen mehr als 100 entrüstete Bewohner des Ortes Melioratywne bei der Großstadt Dnipropetrowsk die Soldaten. Die wütende Menge will die eigenmächtige Aktion der Aidar-Truppe stoppen und bedrängt sie. Als die ersten Warnschüsse fallen, eskaliert die Lage. Die Soldaten schlagen mit Gewehrkolben um sich, mehrere Menschen werden verletzt. Die herbeieilende Polizei stellt sich schützend vor die Soldaten und drängt später die Dorfbewohner, niemanden anzuzeigen.
Berichte wie aus Melioratywne gibt es überall in der krisengeplagten Ukraine. Viele befürchten inzwischen, dass der verheißungsvolle Umsturz nach den prowestlichen Maidan-Protesten Anfang 2014 ähnlich wie die Orange Revolution von 2004 nur wenig Änderungen bringt. Kritiker sprechen von einer "Revolution ohne Würde".
Lediglich 14 Prozent der Ukrainer glauben noch einer Umfrage vom Mai zufolge, dass sich ihr Land unter der proeuropäischen Führung um Präsident Petro Poroschenko in die richtige Richtung bewegt. Ein halbes Jahr zuvor waren es immerhin mehr als 20 Prozent. Die schwere Wirtschaftskrise und der nicht enden wollende Krieg im Osten gegen prorussische Separatisten nagen an den Nerven der Menschen. Inzwischen denken mehr als 60 Prozent der Stadtbevölkerung darüber nach, ihrer Heimat den Rücken zu kehren und auszuwandern.
Es gärt im Land
Im ersten Quartal des Jahres brach die Wirtschaftsleistung um mehr als 17 Prozent ein. Für das Gesamtjahr rechnet der Internationale Währungsfonds IWF mit Minus neun Prozent. Der Kursverfall der Landeswährung und massive Steigerungen bei den staatlich regulierten Energiepreisen trieben die Jahresteuerung im April auf 61 Prozent hoch.
Seinen Gläubigern schuldet die Ukraine rund 45,25 Milliarden Dollar. Auf Kreditgeber aus dem Ausland entfällt davon etwa die Hälfte. Ein Teil der ukrainische Anleihen ist im Besitz russischer Investoren.
Die Unzufriedenheit zeigt sich in allen Teilen der Ex-Sowjetrepublik. In der Nordwestukraine etwa halten sich angesichts der Wirtschaftskrise zahlreiche Menschen mit dem illegalen Abbau von Bernstein über Wasser. Die Polizei schaut weitgehend machtlos zu. Eine Razzia im Wald im Gebiet Riwne bei der weißrussischen Grenze endete kürzlich in einem Gerangel zwischen Polizei und rund 300 Männern. Die Beamten wollten Werkzeuge beschlagnahmen. Auf wilde Wortwechsel und Pfiffe folgten Schüsse, Schreie und Blendgranaten. Ein Dutzend Menschen wurde festgenommen, mehrere verletzt. Der illegale Bernsteinhandel aber geht weiter.
Auch im westukrainischen Galizien brodelt es. "Wenn man von Änderungen spricht, so finden diese in Kiew statt. Bei uns sind nur die einen Leute gegangen und andere gekommen", klagt der Aktivist Andrej aus Iwano-Frankiwsk dem Wochenblatt "Ukrajinsky Tyschden" seinen Frust. "Ich hoffe, dass die fortschrittlichen Kräfte in Kiew die Oberhand behalten und der Impuls weiter ins ganze Land geht."
Mit dem Krieg gegen die Aufständischen wollen viele im traditionell patriotischen Westen des Landes nichts zu tun haben. Immer schwieriger wird es in dem Gebiet, die Einberufungsquoten zu erfüllen. "Die Menschen sind aggressiv gegen diesen Krieg eingestellt, denn sie wollen Frieden", stellt Dmitri Poschodschuk fest, der Bürgermeister des Karpatendorfes Kosmatsch.
Reformen reichen nicht
Auch bei westlichen Partnern der Ukraine wächst die Ungeduld. "Die Ukraine führt zwei Kriege, einen gegen von Russland unterstützte Separatisten und einen anderen um Reformen ihrer Regierung und Wirtschaft", sagte jüngst US-Botschafter Geoffrey Pyatt. Vorzeigen kann Kiew aber nur wenig. Geplante Reformen der Justiz, des Gesundheitswesens, der Bildung und des Energiebereichs laufen auf Preiserhöhungen hinaus oder stecken komplett in einer Sackgasse.
Beobachter erwarten einen heißen Herbst, in dem die Unzufriedenheit weiter wächst, wenn erst die neuen kommunalen Tarife vor allem für die Heizung steigen. Allerdings hält der Politologe Wladimir Fessenko die Lage für weniger dramatisch als vor etwa einem Jahr. "In ökonomischen Krisen machen die Ukrainer keinen Aufstand, sondern suchen Wege, um zu überleben", sagt er. "Wenn es gelingt, die Situation im Winter unter Kontrolle zu halten, dann werden auch die Probleme weiter zurückgehen", schätzt er.
Quelle: ntv.de, Andreas Stein, dpa