Die Heim-EM und der "Flow" "Nagelsmann ist ein spannender Feldversuch"
12.06.2024, 19:33 Uhr
Nagelsmanns eigentliche Stärken kommen als Nationaltrainer gar nicht zur Geltung, findet Roland Reng.
(Foto: picture alliance/dpa/Revierfoto)
Die Heim-EM beginnt und Millionen Deutsche träumen von einem neuen Sommermärchen. Was spricht dafür? Hat die DFB-Elf Titelchancen? Wo liegen die Stärken von Nagelsmanns Jungs? Deutschlands bekanntester Fußballbuchautor Ronald Reng liefert ntv.de die Antworten - und einen Tipp.
ntv.de: Herr Reng, Deutschland freut sich auf die Fußball-Europameisterschaft. Sie auch?
Ronald Reng: Ja, absolut. Wir leben in schwierigen Zeiten im Schatten des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Das hat bei vielen und so auch bei mir die Sehnsucht nach ein bisschen Leichtigkeit ausgelöst. Und genau das wünsche und erhoffe ich mir von der Europameisterschaft. Fußball soll im besten Sinn ein positiver Zeitvertreib sein.
Worauf freuen Sie sich besonders?
Vor allem freue ich mich auf die Stimmung in den deutschen Städten, auf fröhliche, nette Menschen, auf Gespräche, ein Aufeinanderzugehen. Vielleicht gibt es ja doch Zeitreisen zurück in die Vergangenheit - und wir erleben alle 2006 noch einmal, mit der Ausgelassenheit der damaligen WM in Deutschland.
Auf den Fußball an sich freuen Sie sich nicht?
Der Fußball ist bei Welt- und Europameisterschaft meistens weit weniger spektakulär als die Atmosphäre drum herum. Das dürfte bei dieser EM nicht viel anders werden. Wir sind von den Vereinen in der Champions League verwöhnt, im Vergleich dazu fallen die Darbietungen der Nationalteams ab. Die Nationaltrainer haben angesichts des überbordenden Fußball-Terminkalenders nur noch lächerlich wenig Zeit, ihre Teams einzustellen. Sie müssen darauf vertrauen, dass die Spieler ihr bereits vorhandenes taktisches und technisches Knowhow abrufen. Deshalb wählen die meisten Nationaltrainer einen simplen, vorsichtigen Spielstil. Argentinien etwa wurde mit einem ziemlich trockenen Realo-Fußball 2022 Weltmeister. Italiens energisches Pressing beim EM-Sieg 2021 war da eine schöne Ausnahme.
Aber Deutschland hat in diesem Jahr Ansätze von berauschendem Fußball gezeigt. Hat die DFB-Elf Titelchancen?
Selbstverständlich. Sie verfügt über eine Menge begabter Spieler und ist in der Lage, dominant aufzutreten. Es könnte eine Dynamik entstehen, die das Team weit trägt.
Wo liegen die Stärken des Teams, wo die Schwächen?
Die Mannschaft kann mit dem Ball umgehen und spielt sehr viele Chancen heraus. Das hat sie übrigens schon bei der WM in Katar getan, wo sie offensiv gar nicht so schlecht war, wie das Ergebnis mit dem Vorrunden-Aus nahelegt. Damals trat sie aber sehr verkrampft auf. Das hat sich mittlerweile geändert. Interessant ist, dass Deutschland mit Kai Havertz, Niclas Füllkrug und Denis Undav zum ersten Mal seit vielen Jahren eine große Auswahl an starken Torjägern hat. Die drei sind auch noch vollkommen verschiedene Stürmertypen, was dem Trainer Optionen für Korrekturen im Spiel gibt. Kreativ kann Deutschland ein beachtliches Team sein, mit Florian Wirtz, Jamal Musiala und mit Leroy Sané als pfeilschnellen Superjoker, der ein schwieriges Spiel wenden kann. Das alles bedeutet: Viel Schwung nach vorn. Dazu hat das Team mit der Mittelfeldkombi Toni Kroos und Robert Andrich eine taktische und seelische Balance gefunden. Allein durch Kroos' Ballsicherheit verliert die Elf pro Spiel den Ball zirka fünfmal weniger und sieht sich deshalb fünfmal weniger gefährlichen Kontern gegenüber. Das alles bedeutet, die Nationalelf hat eine gute Balance und viel Fantasie im Offensivspiel. Theoretisch (lacht).
Ist die Rückkehr von Toni Kroos der "Gamechanger"?
Ja, absolut, die Kroos-Rückkehr ist ein entscheidender Schachzug. Vor Kroos hatte die Mannschaft große Probleme bei Ballverlusten, die Ordnung wiederzufinden. Sein Positionsspiel ist überragend, war es übrigens auch schon bei der EM 2021, als Uli Hoeneß meckerte, Kroos' Zeit sei vorbei. Das war Stammtisch-Gerede. Der damalige Bundestrainer Joachim Löw hatte Kroos bei jener EM einfach defensiver aufgestellt. Durch diese taktische Ausrichtung war er nicht so häufig am Offensivspiel beteiligt. Aber seine Aufgabe erfüllte er ohne Tadel.
Die Kroos-Rückkehr spricht auch für den jetzigen Bundestrainer Julian Nagelsmann. Wie schätzen Sie ihn ein?
Nagelsmann als Nationaltrainer ist ein spannender Feldversuch. Denn seine eigentlichen Stärken können bei einer Nationalmannschaft gar nicht richtig zur Geltung kommen. Seine Vereinsteams waren durch sein kreatives Training und seine strategischen Ideen dem Gegner oft taktisch überlegen. In der Nationalelf aber bleibt gar keine Zeit für komplexe taktische Manöver. Es geht als Trainer mehr darum, ein Klima der Selbstsicherheit zu schaffen und vor allem den richtigen Mix im Team zu finden. Darauf musste sich Nagelsmann erst umstellen. Ich glaube, es ist ihm gelungen.
Deutschland spielt gegen Schottland, Ungarn und die Schweiz. Das klingt nach einer mehr als lösbaren Gruppenaufgabe …
Da werde ich nicht widersprechen. Ich unterteile die EM-Teilnehmer in Teams mit sehr begabten Spielern - dazu zähle ich etwa Frankreich, Spanien und auch Deutschland - und den Rest mit ordentlich begabten Einzelspielern. Diese Teams haben vielleicht keinen Wirtz oder Harry Kane, aber durchweg gestandene, solide Profis. Die Trainer dieser Teams wählen in der Regel eine einfache Taktik, also eine kompakte defensive Ordnung und rasante Konter. Und damit sind sie alle schon sehr schwer zu besiegen.
Wer ist denn der stärkste Gruppengegner und weshalb?
Der stärkste Gegner in der Deutschland-Gruppe ist in meinen Augen Ungarn. Ihr italienischer Trainer Marco Rossi - der übrigens einst bei Eintracht Frankfurt spielte - arbeitet seit sechs Jahren mit dem Team. Das merkt man. Die Ungarn beherrschen ihren Stil in- und auswendig. Sie greifen den ballführenden Gegner ständig in Überzahl an und gelangen mit zwei, drei einfachen Pässen oder Flanken zu Torchancen. Die Schweiz hat im Vergleich zwar die besseren Spieler, kriegt diese Power aber schon seit längerer Zeit nicht mehr auf den Rasen. Und Schottland als vermeintlich schwächster deutscher Gruppengegner ist gefährlich, weil die Schotten ihre fußballerischen Grenzen genau kennen. Sie spielen deshalb aus Überzeugung sehr defensiv. "Solange es 0:0 steht, leben wir" ist ihre Einstellung. Das könnte für die Deutschen ein Geduldsspiel werden direkt zum EM-Auftakt.
Bei jedem großen Turnier gibt es eine "Todesgruppe". Wem war das Losglück diesmal nicht hold?
Die "Todesgruppe" ist natürlich die mit Frankreich, Niederlande, Österreich und Polen. Frankreich hat bei diesem Turnier die meisten Klassefußballer, von Kylian Mbappé bis Kingsley Coman. Bei Österreich hat es der Trainer Ralf Rangnick geschafft, seinen typischen Spielstil mit einem fein definierten Pressing zu installieren. Und die Niederlande hat von allem ein bisschen: gute Fußballer, definierter Spielstil. Alle drei Teams sind Final-Kandidaten. Aber eines wird schon in der Vorrunde die Segel streichen müssen.
Mal abgesehen von Gastgeber Deutschland: Wer ist in Ihren Augen der Topfavorit für den EM-Titel?
Beim Blick auf den Spielerkader müsste ich Frankreich sagen. Bei einem großen Turnier entscheidet aber meist nicht die individuelle Klasse, sondern der Flow, das Momentum. Jede Mannschaft kann sich in einen Rausch spielen. Das hat der Titelgewinn Italiens 2021 eindrucksvoll gezeigt. Alle paar Jahre kann es angesichts der Nivellierung des Teilnehmerfeldes auch in Zukunft einen totalen Außenseiter-Gewinner wie 2004 mit Griechenland geben. Ein Team wie die Ukraine im Finale ist also nicht undenkbar - ein Sieg von Spanien, Frankreich oder Deutschland allerdings wahrscheinlicher.
Noch ein knallharter Tipp zum Abschluss: Wer wird die EM gewinnen?
Knallhart: Ich weiß es nicht (lacht). Vom Gefühl her würde ich sagen, dass Deutschland das Turnier nicht gewinnt, aber sehr weit kommt und den Fans mit sehr gutem und beschwingtem Offensivfußball schöne Abende beschert. Wie bei der Heim-WM 2006. Das Sommermärchen gab es auch ohne Titelgewinn.
Mit Ronald Reng sprach Thomas Badtke
Quelle: ntv.de