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Brennstäbe vor dem Siedepunkt Wasser soll den GAU verhindern

Helikopter und Wasserwerfer sollen die Reaktoren 3 (l) und 4 (r) kühlen.

Helikopter und Wasserwerfer sollen die Reaktoren 3 (l) und 4 (r) kühlen.

(Foto: dpa)

Japan zwischen Hoffen und Bangen: Techniker des havarierten japanischen Atomkraftwerks Fukushima 1 wollen versuchen, die defekte Stromversorgung wiederherzustellen. Um die Brennstäbe zu kühlen, haben Armeehubschrauber damit begonnen, Wasser über Reaktor 3 abzuwerfen. Internationale Fachleute beurteilen die Lage aber äußerst kritisch: Laut der US-Atomregulierungsbehörde NRC liegen die Brennstäbe in Reaktor 4 wahrscheinlich komplett frei, die Temperaturen stehen kurz vorm Siedepunkt. Nach Einschätzung französischer Atomexperten droht spätestens an diesem Freitag eine nukleare Verseuchung größeren Ausmaßes. Mehrere Länder holen mit Militärmaschinen ihre Bürger aus Japan. Die Überlebenden von Erdbeben und Tsunami haben derweil kaum noch Wasser, Lebensmittel und Benzin und haben mit bitterer Kälte zu kämpfen.

Inzwischen hat ein Kühlversuch aus der Luft begonnen. Zwei Militärhubschrauber haben Wasser auf den beschädigten Reaktoren 3 gekippt, wie Bilder des Fernsehsenders NHK zeigen. Es handelt sich um Hubschrauber vom Typ Chinook CH-47, der 7,5 Tonnen Wasser fassen kann. Mehrmals ergoss sich ein riesiger Schwall über den Block 3, dessen Dach bei einer Explosion abgerissen worden war. Wie viele Tonnen Wasser sie genau abwarfen, blieb zunächst unklar. Die NHK-Aufnahmen stammten von einem Hubschrauber, der außerhalb der Sicherheitszone in mehr als 30 Kilometern Entfernung von dem Unglücks-AKW kreiste.

Nach mehreren Versuchen mussten die Helikopter ihre Arbeit einstellen.

Nach mehreren Versuchen mussten die Helikopter ihre Arbeit einstellen.

(Foto: AP)

Das Kühlwasser aus der Luft soll die Temperatur im Kraftwerksinnern senken. Die Brennelemente dort enthalten auch hochgiftiges Plutonium und liegen teilweise frei. Die wichtige innere Reaktorhülle des Blocks 3 sei möglicherweise beschädigt, hatte Regierungssprecher Yukio Edano am Mittwoch berichtet. Später hieß es, die Hülle sei intakt. Die Angaben sind seit Tagen widersprüchlich. Vor dem Start des Hubchraubereinsatzes war aus der Luft die Radioaktivität gemessen und entschieden worden, dass der Einsatz möglich sei. Am Mittwoch war ein entsprechender Einsatz unter Verweis auf viel zu hohe Strahlungswerte verschoben worden.

Zwei Helikopter werfen Wasser über Reaktor 3 ab.

Zwei Helikopter werfen Wasser über Reaktor 3 ab.

(Foto: REUTERS)

Parallel zum Hubschraubereinsatz sind sollen Kühlversuche mit Wasserwerfern gestartet werden, berichtet NHK. Elf Wasserwerfer sind vor dem AKW in Stellung gegangen. Sie sollen neben dem Reaktor 3 vor allem den Nachbarblock 4 kühlen. Dort ist das Dach nämlich noch teilweise intakt und ein Kühlversuch mit Hubschraubern erscheint wenig vielversprechend. Die Wasserwerfer sollen am Donnerstagvormittag zum Einsatz kommen.

Unterdessen will die Betreiberfirma Tepco erneut versuchen, die Stromversorgung des Kraftwerks wieder herzustellen. Die Stromversorgung war nach dem Beben vom Freitag zusammengebrochen. Am Mittwoch war die Reparatur noch an der hohen Strahlung auf dem Kraftwerksgelände gescheitert.

Lebensgefährlicher Kampf

50 Techniker stemmen sich in Fukushima gegen das totale Desaster, zeitweilig zumindest, denn auch diese Handvoll Männer muss immer wieder ihre Arbeit abbrechen. Es drohe ein "sehr bedeutender" Austritt von Radioaktivität, sollte es nicht binnen zwei Tagen gelingen, das Wasserniveau in dem Becken für gebrauchte Brennstäbe an Reaktor 4 anzuheben, warnte das französische Institut für Atomsicherheit IRSN. Die Strahlung werde dann so hoch sein, dass weitere Arbeiten unmöglich würden. Die US-Atomregulierungsbehörde NRC geht davon aus, dass das Abklingbecken im Reaktor 4 defekt und das Wasser bereits abgelaufen ist. Damit lägen die Brennstäbe wahrscheinlich komplett frei, sagte NRC-Direktor Gregory Jaczko. Fest steht, dass die Temperatur im Abklingbecken dramatisch hohe Werte erreicht hat. Schon am Montag und Dienstag wurden 84 Grad Celsius gemessen – unter normalen Umständen sind es unter 25 Grad. Für die Abklingbecken in den noch als weitgehend intakt geltenden Reaktoren 5 und 6 meldete die IAEA für Mittwoch 62,7 beziehungsweise 60 Grad Celsius. Laut EU-Energiekommissar Günther Oettinger ist die Lage in Fukushima "außerhalb einer fachmännischen Kontrolle" und bewege sich "irgendwo zwischen GAU und Super-GAU".

Die Schäden am Kern dreier Reaktoren sind inzwischen auch durch die Internationale Atomenergiebehörde IAEA in Wien bestätigt. Nach Angaben der japanischen Atombehörde sind vermutlich 70 Prozent der Brennstäbe in Reaktor 1 sowie ein Drittel der Brennstäbe in Reaktor 2 beschädigt. Priorität hat nach Angaben von Tepco der Reaktor 3, dessen Dach durch eine Explosion beschädigt wurde und aus dem zeitweise Dampf entwich. Reaktor 3 verwendet auch das hochgiftige Plutonium als Brennstoff. Das extrem krebserregende Schwermetall hat eine Halbwertzeit von 24.110 Jahren. Doch am Abend spitzte sich die Lage an Reaktor 4 zu.

Die Drohne Global Hawk soll ins Innere der zerstörten Meiler blicken (Archivaufnahme).

Die Drohne Global Hawk soll ins Innere der zerstörten Meiler blicken (Archivaufnahme).

(Foto: dpa)

Radioaktivität an Block 4 extrem hoch

Tepco hatte bereits befürchtet, dass sich dort das Abklingbecken immer mehr erhitzen und Dampf produzieren könnte. Sollten dadurch die Brennstäbe freiliegen, könnte Radioaktivität in die Umwelt gelangen. Am Abend trat dieser Fall ein: Nach Angaben der US-Atomregulierungsbehörde NRC war kein Wasser mehr im Abklingbecken. Die Experten gingen davon aus, dass das Becken defekt und das Wasser abgelaufen ist. Die Radioaktivität sei extrem hoch.

In der Region Fukushima werden alle auf erhöhte Strahlenwerte überprüft.

In der Region Fukushima werden alle auf erhöhte Strahlenwerte überprüft.

(Foto: AP)

Die USA empfehlen inzwischen eine größere Evakuierungszone um Fukushima. Ihren vor Ort ausharrenden Bürgern legte die Obama-Regierung ans Herz, das Gebiet im Umkreis von 80 Kilometern zu verlassen. Die US-Soldaten in Japan brauchen jetzt eine Sondergenehmigung, um näher als 50 Meilen (80 Kilometer) an den Unglücksreaktor heranzukommen.

Später meldete der TV-Sender NHK, der Evakuierungsradius werde ausgeweitet. Wegen der Gefahr radioaktiver Verstrahlung müssten weitere 28.000 Menschen in der Präfektur Fukushima ihre Häuser verlassen. Viele Notunterkünfte in der Region seien aber schon überfüllt. Deshalb würden die Menschen jetzt auch auf umliegende Präfekturen verteilt. Die japanische Regierung hatte bisher nur Gebiete im Umkreis von 20 Kilometern evakuiert.

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(Foto: Stepmap)

Experten sehen schwarz

Ein unbemanntes Flugzeug des US-Militärs soll nun mit seinen hochauflösenden Kameras mehr Klarheit über das Innere der Atomreaktoren bringen. Die Drohne Global Hawk hat zudem Wärmebildkameras an Bord.

Experten zufolge kommen die Bemühungen zur Eindämmung der Katastrophe einem letzten verzweifelten Versuch gleich. "Das ist ein langsam ablaufender Alptraum", sagte der Physiker und Plutonium-Experte Thomas Neff vom Massachusetts Institute of Technology. "Die scheinen das Handtuch geworfen zu haben", kommentierte der langgediente Kraftwerks-Ingenieur Arnie Gundersen den Umstand, dass die Zahl der im AKW eingesetzten Arbeiter von 800 auf 50 verringert wurde. So bekomme man die Lage nicht in den Griff.

Die IAEA nannte die Lage in dem 250 Kilometer nördlich von Tokio gelegenen Komplex "sehr ernst". Dennoch könne man noch nicht sagen, dass die Dinge außer Kontrolle seien, so der IAEA-Chef Yukiya Amano. Nun will er sich an Ort und Stelle ein Bild machen.

Cäsium und Jod im Leitungswasser

Die radioaktive Strahlung auf der Anlage erreichte neue Rekordmarken. Japan wandte sich nun auch an die USA. Unterstützung der US-Truppen könnte nötig sein, sagte Edano. Die Nachrichtenagentur Kyodo meldete zudem, dass die Regierung auch dem Einsatz ausländischer Ärzte für die Erdbebenopfer zustimme. Südkorea will einen Teil seiner Reserven des Halbmetalls Bor nach Japan schicken. Damit sollen die schwer beschädigten Atomreaktoren im Kraftwerk stabilisiert werden.

Am Morgen waren Cäsium und Jod im Leitungswasser in der Präfektur Fukushima nachgewiesen worden, berichten örtliche Behörden. Beides ist nicht giftig, Cäsium im Trink- oder Abwasser gilt aber als Indikator für die radioaktive Belastung der Umwelt.

EU prüft Lebensmittel aus Japan

Die EU hat unterdessen die 27 Mitgliedstaaten aufgefordert, aus Japan eingeführte Lebensmittel auf mögliche Strahlenbelastung hin zu untersuchen. Das bestätigte der Sprecher von EU-Gesundheits- und Verbraucherkommissar John Dalli. Wie Diplomaten berichteten, habe es über das europäische Schnellwarnsystem für Nahrungs- und Futtermittel (RASSF) eine entsprechende Mitteilung an die EU-Länder gegeben. Mögliche Funde sollen an das System zurückgemeldet werden.

Die Präfektur Fukushima wurde von Erdbeben und Tsunami schwer getroffen.

Die Präfektur Fukushima wurde von Erdbeben und Tsunami schwer getroffen.

(Foto: dpa)

Bisher sind nach Angaben von Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner in Deutschland keine radioaktiv belasteten Fische oder andere Lebensmittel aufgetaucht. Weil aber auch die Region um Japan betroffen sein könne, sollen aus Sicherheitsgründen alle Lebensmittel aus Japan auf mögliche Strahlenbelastung untersucht werden - vor allem Fisch und Fischprodukte wie Sushi.

Störfall zu niedrig eingestuft

IAEO-Chef Amano zeigte sich auch erstmals frustriert über sein Heimatland Japan und verlangte detaillierte Informationen. Diese sollten zudem schneller geliefert werden. Experten zufolge haben die Japaner die Katastrophe durch die niedrige Einstufung in der siebenstufigen Störfallskala heruntergespielt. Die französische Atomsicherheitsbehörde ist der Ansicht, die Ereignisse in Fukushima müssten auf Stufe Sechs statt auf Stufe Vier eingeordnet werden. Auch die USA schlossen sich dieser Einschätzung an. Nach Ansicht der französischen Regierung verliert Japan die Kontrolle über die Reaktoren. Das Land rief seine Bürger deshalb zum Verlassen des Inselreichs auf. Das Auswärtige Amt in Berlin appellierte an alle Deutsche in Japan, die Katastrophenregion sowie den Ballungsraum Tokio-Yokohama schnellstens zu verlassen.

Besorgte Worte kamen auch aus Russland. "Unglücklicherweise entwickelt sich die Lage nach den schlimmsten Annahmen", sagte Sergej Kirijenko, dem die militärischen und zivilen Atomanlagen aus Sowjet-Zeiten unterstehen. Das russische Außenministerium will von Freitag an die Angehörigen von Diplomaten ausfliegen.

"Was zum Teufel ist da los?"

In den japanischen Medien wird derweil die Informationspolitik von Tepco und von Ministerpräsident Naoto Kan zunehmend kritisch beurteilt. Kan seinerseits soll verärgert auf eine verspätete Unterrichtung durch den Kraftwerksbetreiber reagiert haben. "Was zum Teufel ist da los", herrschte er nach einer Meldung der Nachrichtenagentur Kyodo Manager von Tepco an. Kan hat die Atom- und Naturkatastrophe als größte Krise in Japan seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet.

Kaiser Akihito nahm die Katastrophe zum Anlass für eine seiner seltenen direkten Ansprachen an die Bevölkerung, die er aufforderte, die Hoffnung nicht aufzugeben.

Flüchtlingslage spitzt sich zu

bringen sich in Sicherheit. Der Fernsehsender NHK berichtet, dass weitere 28.000 Menschen vor der Gefahr radioaktiver Verstrahlung geflohen seien. So seien in der Präfektur Niigata weitere Hotels reserviert worden, um Flüchtlinge aufzunehmen. In den Präfekturen Yamagata und Tochigi seien nun Experten damit beschäftigt, Menschen aus Fukushima auf Radioaktivität zu überprüfen und medizinisch zu versorgen.

Die Lage in den Notlagern weiter im Erdbebengebiet im Nordosten wird ebenfalls immer angespannter. In einer Grundschule in der Stadt Sendai entfachten die dort untergebrachten Menschen am im Morgengrauen mit Holzscheiten Feuer unter Fässern, um heißes Wasser zuzubereiten. Die Fensterscheiben waren im Inneren des Gebäudes vereist. Die Menschen versuchen sich mit Decken warm zu halten.

"Die Gasvorräte gehen zu Ende", sagte ein Reporter des japanischen Fernsehens. An den Wassertanks bildeten sich Schlangen geduldig wartender Menschen. Mancherorts hat es geschneit. Auch Benzin an den wenigen noch geöffneten Tankstellen geht aus.

Insgesamt müssen 430.000 Menschen in Notquartieren ausharren. Der Wintereinbruch behindert die Rettungsarbeiten, vielerorts werden die Lebensmittel knapp. Die Regierung will notfalls die Reisreserven des Landes anbrechen und verteilen. Die Zahl der registrierten Todesopfer stieg offiziell auf 5200; die tatsächliche Zahl dürfte weitaus höher liegen. Für die Opfer der Katastrophen will die japanische Bauwirtschaft in den kommenden Tagen mehr als 32.000 Behelfsunterkünfte errichten.

Mindestens 1,6 Millionen Haushalte sind noch immer ohne fließend Wasser, 850.000 ohne Strom. Östlich von Tokio hatte es in der Nacht zum Mittwoch ein Nachbeben mit der Stärke 6,0 auf der Richterskala gegeben, in der Hauptstadt wankten Gebäude. Eine Tsunami-Warnung gab es indes nicht.

Angespannte Ruhe in Tokio

Zwar war die Strahlenbelastung in der Metropole nach offiziellen Angaben zehnmal höher als normal, aber noch immer keine Belastung für die Gesundheit. Viele der 13 Millionen Einwohner blieben dennoch in ihren Wohnungen. Züge und Straßen waren leer. Viele Läden und Büros blieben geschlossen. Das Auswärtige Amt in Berlin verschärfte seine Sicherheitshinweise und riet allen Deutschen, nicht nur das Katastrophengebiet um Fukushima, sondern auch den Ballungsraum Tokio-Yokahama zu verlassen.

 

Quelle: ntv.de, dpa/AFP/rts

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