Es lebe Europa Das Menetekel des ESC
09.05.2017, 19:30 Uhr
Beim ESC singen in diesem Jahr 42 Länder um die Wette.
(Foto: AP)
Frankreich bleibt eine Präsidentin Le Pen noch einmal erspart. Doch die europäische Idee bleibt so unpopulär wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Ausgerechnet die Unterhaltungsbranche muss aufzeigen, wie dumm das ist.
Emmanuel Macron wird neuer französischer Präsident. Und die überzeugten Europäer atmen auf. Vorerst zumindest. Denn es scheint klar: Sollte sich Europa in den kommenden Jahren als reformunfähig erweisen, wird der Vormarsch der Populisten und rechten Vereinfacher in vielen Ländern weitergehen. Und in Frankreich der von Marine Le Pen. Aufgeschoben ist schließlich nicht aufgehoben. Und die gerade mal 48-Jährige wird schon 2022 den nächsten Anlauf auf den Élysée-Palast unternehmen.

Sorgte mit seinem Pro-Europa-Plädoyer für Aufsehen: Klaas Heufer-Umlauf in der "NDR Talkshow".
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Wie viele politische Talkshows und Magazine haben sich in den vergangenen Monaten und Jahren wohl damit befasst? Mit den europäischen Sektierern - heißen sie nun Le Pen, Wilders oder Höcke? Mit den internationalen Spaltern des angeblich "verrottenden" Kontinents - heißen sie nun Trump, Putin oder Erdogan? Mit dem Brexit, einem möglichen Frexit oder den vermeintlichen Volksverrätern in und um Brüssel? Vergebens. Die europäische Idee bleibt in diesen Tagen so unpopulär wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Bei großen Bevölkerungsteilen und den von ihnen gewählten Hasardeuren verfangen die Lehren aus einer von zwei Weltkriegen erschütterten europäischen Geschichte ebenso wenig wie die aus Jahrzehnten waffenstarrender Teilung. Bei etablierten Parteien, nicht-alternativen Fakten und der "Lügenpresse" wird auf Durchzug geschaltet.
Während sich vernunftbegabte Politiker, Wissenschaftler und Journalisten in der Diskussion mit den anti-europäischen Totengräbern den Mund fusselig quatschen, muss ein Unterhaltungsfuzzi wie Klaas Heufer-Umlauf offenbar nur einmal eine Brandrede halten, um manche Menschen wachzurütteln. Das Pro-Europa-Plädoyer des auf Halli und Galli spezialisierten Moderators in der "NDR Talkshow" generierte jedenfalls mehr Aufmerksamkeit als manch dutzende politische Schaufensterreden zuvor. Dabei hat der 33-Jährige nun nicht gerade den Stein der Weisen durch die Sendung gerollt. Er hat lediglich mit ein paar markanten Worten auf den Punkt gebracht, was anscheinend gerade seiner Alterskohorte einfach mal laut zugerufen werden muss: "Wenn wir Europa kaputt machen, sind wir die dümmste Generation, die je gelebt hat."
Wenn fast ein Viertel aller Länder singt
Was das alles mit dem Eurovision Song Contest (ESC) zu tun hat? In Kiew findet er gerade zum 62. Mal statt. 1956 ins Leben gerufen, ist er sogar ein Jahr älter als die 1957 gegründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Vorläufer der heutigen Europäischen Union. Einst mit sieben teilnehmenden Ländern gestartet, schwoll die Zahl der sangesfreudigen Nationen bis zum Ende der 80er-Jahre bis auf 22 an. Seit dem Ende des Kalten Krieges 1990 nehmen nun bis zu sage und schreibe 43 Länder an dem Wettsingen teil - zwischen einem Viertel und einem Fünftel aller Staaten der Welt. Von denen sind einige freilich alles andere als astreine Europäer. Und das nicht nur unter geografischen Gesichtspunkten.

Ihr Beitrag könnte ebenso aus Deutschland oder Polen kommen: Sängerin Dihaj aus Aserbaidschan.
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Und natürlich war und ist die Veranstaltung - allen Beteuerungen und Anstrengungen der Verantwortlichen zum Trotz - nie frei von Politik. Israels Teilnahme sorgte in der Vergangenheit etwa ebenso schon für Verwerfungen wie die Austragung des "Grand Prix" in Spanien unter der Franco-Diktatur. In diesem Jahr wird der ESC vom Konflikt zwischen dem Gastgeber Ukraine und Russland überschattet. Angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Ländern ein Konflikt mit ganz besonderer Sprengkraft, der tatsächlich an den Grundfesten der Eurovisionsidee rüttelt. Die Europäische Rundfunkunion (EBU) tut gut daran, über einen Ausschluss der beiden Staaten aus dem Wettbewerb in den kommenden Jahren nachzudenken. Einem Wettbewerb, der eben gerade nicht mit Waffen und Gewalt, sondern mit mehr oder weniger guten Stimmen, mehr oder weniger gelungenen Songs und mehr oder weniger skurrilen Interpreten ausgetragen wird.
Was eint statt trennt
Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder, heißt es bekanntlich. Der Satz mag ebenso liebenswert-naiv sein, wie der ESC-Klimbim heutzutage oftmals nonchalant belächelt wird. Die grundlegende Idee der Völkerverständigung, auf der er fußt, sollte jedoch allemal ernst genommen werden. Mehr noch, wirbt die Veranstaltung doch längst nicht mehr nur für ein Miteinander über nationale Grenzen hinweg, sondern auch für Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensmodellen. Der Sieg von Conchita Wurst vor drei Jahren hatte dabei ebenso Signalwirkung wie das diesjährige Motto des ESC: "Celebrate Diversity" - lasst uns die Vielfalt feiern.
Dabei wird einem mit Blick auf die künstlerischen Darbietungen in Kiew - und das kann man in gewisser Weise auch durchaus bedauern - ebenso bewusst, wie viel mehr die Länder dort eigentlich inzwischen eint als trennt. Eine Interpretin wie Dihaj aus Aserbaidschan etwa könnte mit ihrem Song "Skeletons" ohne weiteres auch für Deutschland ins Rennen gehen. Oder für Frankreich. Oder für Polen …
So gesehen mahnt ausgerechnet ein Unterhaltungszirkus wie der ESC daran zu denken, was viele inzwischen zusehends zu vergessen scheinen. An die Werte von Frieden, Miteinander und Toleranz. Und manche, die mit einer für sie vielleicht altbacken anmutenden Veranstaltung wie dieser nichts anzufangen wissen, sollte man womöglich zwangsweise vor den Fernseher verpflanzen. Seht hin: Wenn ihr Europa kaputt macht, seid ihr die dümmste Generation, die je gelebt hat.
Quelle: ntv.de