Harry oder "The spare heir" Prinz ohne Furcht - aber mit Tadel
09.01.2023, 18:49 Uhr
"Spare" heißt Prinz Harrys Autobiografie, die ab Dienstag im Handel ist.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Henry Windsor-Mountbatten hält in seinem Buch "Spare" böse Gerüchte wach und überschreitet offenkundig Grenzen - um das Abnormale in seinem Leben zu normalisieren, wie schon sein Vater? Das Geständnis, 25 Taliban getötet zu haben, gefährdet derweil laut Experten das Leben des Prinzen.
Anlässlich der Hochzeit des heutigen britischen Thronfolgers William erklärte mir einmal dessen Urgroßtante Pamela Hicks, was es mit dem traditionellen englischen Spruch "one heir, one to spare" wirklich auf sich hat: Er richtet sich als lebenspraktische Mahnung an den Stammhalter jeder Familie, die ohne Nachfahren aussterben würde. Aus diesem triftigen Grund sei eine ordentliche Ehe wenigstens zu dem einen Zweck zu führen, einen legitimen Erben (oder eine Erbin) zu zeugen. Da ihm (oder ihr) etwas zustoßen kann, sei außerdem ein Ersatzerbe wünschenswert - the spare heir.
Erst wenn diese Aufgaben erfüllt seien, so Lady Pamela, dürften die Eheleuten machen, was ihnen lieb ist. Im Fall ihrer eigenen Eltern - Louis und Edwina Mountbatten -, deren Spare sie selbst war, eröffnete der aristokratische Brauch nach Pamelas Geburt im Jahr 1929 eine eklatant offene Beziehung.
Im Fall ihres Großneffen Charles, dem heutigen König von England, führte die Geburt von Henry Charles Albert David im September 1984 zur endgültigen Trennung von Ehefrau Diana. War der Erstgeborene Prinz William hinreichend, um die Thronfolge von Charles' Linie in der Familie Windsor-Mountbatten zu sichern, bildete der als Prinz Harry bekannte, zweite Sohn die notwendige Bedingung für das private Glück: Es entfaltete sich für Charles mit der offiziellen Scheidung von Diana 1996 und mit der offiziellen Ehelichung seiner Jugendliebe Camilla 2005 - der heutigen Queen Consort.
"Wer weiß, ob ich überhaupt dein Vater bin?"
Nicht nur, dass Charles mithilfe von Harry seinem Herzen folgen konnte, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Er hat die Freiheit, die er dem Sohn verdankte, auch in einer Weise genutzt und ausgelegt, die Jahrhunderte zuvor und selbst noch während seiner ersten eigenen Ehejahre undenkbar gewesen wäre: Es gelang ihm, das Abnormale einer heimlichen, nicht einmal standesgemäßen Liebesbeziehung zu normalisieren und für alle Untertanen sichtbar neben sich auf dem Thron zu platzieren.
Dass Charles hingegen ohne die Existenz von Spare Harry noch einmal mit Diana hätte ins Bett steigen müssen, erklärt, warum Dianas Reitlehrer James Hewitt entgegen aller bösen Gerüchte auf gar keinen Fall Harrys Vater sein durfte - selbst dann nicht, wenn die angeblich vollzogenen Vaterschaftstests genau das ergeben hätten. Mag die Wahrheit ein Staatsgeheimnis sein und bleiben, kann es als hundertprozentig gesichert gelten, dass Charles auch als rechtmäßiger Vater von Harry bezeichnet werden kann. Notfalls hat er ihn nämlich adoptiert. Das hätte Harry zwar im (ziemlich unwahrscheinlichen) Fall eines tatsächlichen Thronfalls nicht automatisch zum rechtmäßigen Erben gemacht, weil dafür zumindest nach altem Recht die Blutsverwandtschaft vorausgesetzt wird. Doch privatrechtlich, also innerhalb der Familie, hätte es genügt und gegolten - zumal "one heir, one to spare" kein bindendes Gesetz ist, sondern eine Konvention.
Indem nun ausgerechnet Harry selbst in seinem Buch "Spare" das heikle wie hartnäckige Gerücht einer zweifelhaften Abstammung außerhalb der Ehe seiner Eltern anspricht, erinnert er nicht nur daran, welche Belastung es - so oder so - für ihn darstellt. Er macht damit auch noch einmal deutlich, dass er eine entscheidende Rolle für die geordneten Verhältnisse von heute hatte. Da kann Vater Charles noch so viele spekulativ-sarkastische Fragen stellen - etwa: "Wer weiß, ob ich überhaupt dein Vater bin?" Harry kann im Indikativ und mit Fug, Recht und Ausrufezeichen entgegnen, dass er der wiedererlangten Ehre und dem Wohlbefinden des Königs gedient hat wie einer, der sich freiwillig in Geiselhaft nehmen lässt - und damit auch der Monarchie insgesamt.
Normalisierung des Abnormalen
Der Lohn dafür scheint auszustehen. Dies umso mehr, wenn man bedenkt, wie Harry seit dem Tod seiner Mutter für sein privates Glück gekämpft hat und seit der Beziehung mit Meghan Markle weiterhin dafür kämpfen muss. Sollte in der - durch und durch abnormalen - Königsfamilie der Grundsatz der Gleichbehandlung existieren, dann ist es der Autor des Buchs "Spare", der den Anspruch vorträgt, mindestens einen gut zu haben bei King and Country. Und weil er dafür in privaten Gesprächen offenbar kein Gehör gefunden hat, nutzte er die dreistelligen Millionenangebote von Netflix, Spotify und des Buchverlags Penguin (der wie ntv und RTL zu Bertelsmann gehört), um vor den Augen und Ohren der Weltöffentlichkeit ebenfalls für die Normalisierung des Abnormalen in seinem Leben zu werben.
Da sind zunächst Harrys anekdotische Abweichungen von der Norm, etwa der Konsum von Kokain oder der erste Sex mit einer älteren Frau hinter einem Pub. Da diese Geständnisse im wahrsten Sinne nichts anderes als pubertär sind, wird er sie nicht bereuen müssen.
Etwas anders sind Harrys fundamentale Abweichungen als Vertreter von Institutionen, einmal als ein Mitglied - und immerhin als "the Spare" - der Königsfamilie und zum anderen als Soldat - und immerhin als Offizier - der britischen Armee. Letztere hat er ebenfalls zehn Jahre seines Lebens als Familie betrachtet und wohl auch als solche gesucht.
Ungewöhnlich und mutig
Egal, ob Zufall oder dramaturgisch beabsichtigt: Es ist bemerkenswert, dass sich Harry in der ersten Familie als Opfer und in der zweiten als Täter darstellt - ohne in beiden Fällen die vollständigen Konsequenzen seiner Schilderungen erfassen zu können. Einerseits schildert er ausführlich die manipulativen Methoden und heimlichen Absprachen der Londoner Boulevardpresse sowie der Palastdiener im System der "Royal Rota". Daran sei schon seine Mutter Diana zugrunde gegangen und davor seien er und seine Frau schließlich in die USA geflüchtet - schon deshalb, weil die Sicherheit der eigenen Familie das Wichtigste für ihn sei.
Zum anderen räumt er ein, bei einem Einsatz als Co-Pilot und Bordschütze in einem Apache-Hubschrauber in Afghanistan 25 Taliban-Kämpfer getötet zu haben.
Beide Darstellungen sind ungewöhnlich, mutig und für sich genommen abnormal. Respekt und Anerkennung gebührt ihm für die vehemente wie überfällige Kritik am toxischen Umgang zwischen der britischen Presse und dem Königshaus. Ob er dadurch eine Sonderbehandlung und mehr Schutz für sich erwirken kann, bleibt abzuwarten. Doch seine Hinweise auf psychische Gewalt und finanzielle Erpressung der Krone ("We pay, you pose" - "Die Öffentlichkeit bezahlt, ihr müsst Männchen machen") sind von Wert für eine verfassungspolitische Würdigung. Sollten sie zu weiteren Diskussionen oder gar zu Reformen führen, hätte Harry immerhin einen Orden für diese seltene, gewissermaßen von oben herbeigeführte Revolution verdient.
Wovor Harry Angst zu haben scheint
Das andere ist der Bruch mit dem Tabu, öffentlich über Taten und Opfer in einem Kriegseinsatz zu sprechen. Das ist gefährlich und nicht nachvollziehbar - schon gar nicht vor dem Hintergrund, dass ihm die Sicherheit der eigenen Familie am Herzen liegt.
Friedrich Haas, Gründer und Geschäftsführer der deutschen Sicherheitsfirma AKE, die in Afghanistan einige der von Harry inkriminierten britischen Medien unterstützt hat und die dafür ehemalige britische Spezialkräfte beschäftigt, die auch schon für den Schutz der königlichen Familie eingesetzt worden sind, betont gegenüber ntv.de: "Die Aussagen von Prinz Harry verändern die Sicherheitslage der Royals: Er hat damit auf sich aufmerksam gemacht und könnte für Gelegenheitsattentäter zu einem symbolträchtigen Ziel werden. Das wird Auswirkungen für das Sicherheitskonzept seiner öffentlichen Auftritte und für andere Angehörige der königlichen Familie haben."
Doch Harry scheint Angst vor etwas anderem zu haben: dass ihm die Felle wegschwimmen und sein Hebel immer kürzer wird. Dies versinnbildlicht noch einmal der Faktor "Spare", der für Harry in den vergangenen 38 Jahren erheblich an Wert verloren hat. Wäre er ohne die drei minderjährigen Kinder von William und Kate heute auf Platz 2 der Thronfolge, ist er durch sie - gewissermaßen: one heir, two to spare - auf Platz 5 gerutscht. Dabei ist sein Anrecht nicht vollends wertlos und erloschen. Ob er es überhaupt jemals ziehen würde, weiß niemand, im Zweifel nicht einmal er selbst. Dass er es einsetzt, um über neue Verhältnisse im Königshaus zu verhandeln, weiß nun die ganze Welt.
Quelle: ntv.de