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Lebewohl, Martha Cohen Berchtesgadener 37 - letzte Station vor der Deportation

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Ingke Brodersen erzählt die Geschichten von Martha und Co, damit wir sie nie vergessen.

Ingke Brodersen erzählt die Geschichten von Martha und Co, damit wir sie nie vergessen.

(Foto: Ken Yamamoto)

Als Historikerin hat sich Ingke Brodersen längst eingehend mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt. Wie nah ihr die Geschichte noch einmal gehen würde, ahnt sie nicht, als sie Anfang der 1990er-Jahre in eine Wohnung im Bayerischen Viertel in Berlin-Schöneberg zieht. Berühmte Persönlichkeiten haben hier gelebt, darunter viele jüdische Intellektuelle wie Albert Einstein und Marcel Reich-Ranicki. Aber auch Menschen, deren Namen niemand kennt. Sie wurden entrechtet, verfolgt und ermordet, weil sie Juden waren. Eine Lücke im Stuck brachte Brodersen in ihrer Altbauwohnung ins Grübeln: Wer hat hier wohl früher gewohnt? Was ist hier alles passiert?

Was Juden alles nicht durften ...

Was Juden alles nicht durften ...

(Foto: IMAGO/Funke Foto Services)

Dann wurde ein Stolperstein vor ihrem Haus in der Berchtesgadener Straße eingelassen. Schilder an Straßenlaternen tauchten auf, die fortan an die schleichende Entrechtung der jüdischen Bürger ab 1933 erinnern sollten. Brodersen fragte sich, wer damals in ihrem Haus gelebt hatte und begann ihre Spurensuche. Sie fand heraus, dass ihr Haus für 24 jüdische Nachbarn die letzte Adresse vor ihrer Deportation gewesen war. In "Lebewohl, Martha – Die Geschichten der jüdischen Bewohner meines Hauses" erinnert Brodersen an diese Menschen und ihre Lebenswege. Sie berichtet von der verwitweten Pianistin Martha Cohen, die nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet wurde, über den Zahnarzt Hermann Katz und die Verkäuferin Ida Wolle, hin zu Siegfried Kurt Jacob, dem Eigentümer ihres Hauses, der nach dem Krieg vergeblich um sein Eigentum kämpfte. Ingke Brodersen erinnert sich an ihre Zeit als Buchhändlerin, als sie mit Widerwillen die Memoiren Albert Speers verkaufen musste. Vor allem aber wendet sie sich denen zu, die heute Vertriebene sind. Mit ntv.de spricht sie über ihr Buch. Aber vor allem über die Menschen, die "damals" in ihrer Wohnung gelebt haben.

ntv.de: Ich weiß, es geht um Martha Cohen und die anderen Bewohner des Hauses, über die Sie schreiben, aber in Ihrem Buch geht es auch um Albert Speer - ich wüsste von Ihnen gern, ob wir den Architekten des Führers noch einmal gänzlich neu bewerten sollten.

Ingke Brodersen: Dass es Albert Speer war, der maßgeblich für die "Entjudung" des Wohnungsbestandes gesorgt und damit den Auftakt zu den Deportationen der Juden in die Vernichtungslager gegeben hatte, war seit der 2011 erschienenen Dissertation der Historikerin Susanne Willems bekannt. Allerdings wurde ihre bahnbrechende Arbeit bestenfalls in Fachkreisen diskutiert, nicht in der breiten Öffentlichkeit. Aber zwei prominente Zeitgenossen haben Speer bei seiner Legendenbildung, er sei ein "anständiger" Nationalsozialist, ein unpolitischer Technokrat gewesen, hilfreich unter die Arme gegriffen: Der spätere Mitherausgeber und Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Joachim Fest war Speer als Ghostwriter zu Diensten, und der Verleger des Propyläen Verlags Wolf Jobst Siedler. Er brachte Speers "Erinnerungen" heraus.

Damals war kein größerer Aufschrei zu hören, oder?

In der Berliner und der bundesrepublikanischen Gesellschaft waren beide, so stellte ich erstaunt fest, als ich 1991 den Verlag Rowohlt Berlin eröffnete, wohlgelitten. Die deutsche Gesellschaft hat lange gebraucht, bis sie anfing, sich ernsthaft mit den Verbrechen der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Albert Speer war ein Kriegsverbrecher, Fest und Siedler haben sich als Komplizen an der Beschönigung und Verdrängung beteiligt.

Kommen wir zu Ihrem Buch: Wie oft denken Sie an Martha und Co.? Spüren Sie sie manchmal noch in den vier Wänden, die nun schon lange Ihre sind?

Martha und meine anderen "Schützlinge", die ermordeten jüdischen Bewohner des Hauses, in dem ich lebe, begleiten mich täglich. Schaue ich von meinem Schreibtisch aus zum hohen Turm der Kirche zum Heilsbronnen, dann weiß ich gleichzeitig, dass auch Martha Cohen an diesem Platz gesessen haben muss, als sie versuchte, durch Änderungen an ihrem Testament zu verhindern, dass den Nazis ihr noch verbliebenes Vermögen in die Hände fiel. Immer wieder studiere ich den linken Seitenflügel unseres Hauses von meinem Küchenfenster aus und frage mich, in welche Zwei-Zimmer-Wohnung Kurt Rechnitz und seine weinende Frau Betty zwangseingewiesen wurden, nachdem sie ihre Sieben-Zimmer-Wohnung in der benachbarten Münchner Straße hatten räumen müssen. Die zwei Zimmer mussten sie sich mit vier anderen Parteien teilen, eine psychosoziale Herausforderung.

Was macht das mit Ihnen?

Mir geht es gut nach dieser Arbeit. Die Recherchen, dieses Stück Forschungsarbeit, mit dem ich zumindest Momente des Lebens meiner Schützlinge rekonstruieren wollte, ist immer auch ein Akt der Selbsterforschung.

Auszug aus: "Lebewohl, Martha"

Von einer unter all jenen, über die ich hier berichtet habe, muss ich mich besonders verabschieden: von Martha Cohen. Spät erst habe ich entdeckt, dass sie ihre letzte Lebenszeit in der Wohnung verbrachte, die seit Jahren mein Heim ist. Der Eichenbaum, der, umarmt von einer gelben Kletterrose, vor unserem Haus die Straße säumt und bald unseren Balkon erreicht haben wird, den hat es zu ihrer Zeit noch nicht gegeben. Aber Martha wird aus demselben Fenster geschaut haben, aus dem auch ich blicke, wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und von dem Text aufschaue, an dem ich schreibe; das Fischgrät-Parkett in den vorderen Zimmern ist alt, vielleicht hat es schon unter ihren Füßen so geknarzt wie heute. Einen Flügel wie sie habe ich nicht, aber ein Klavier, auf dem mein Mann viel zu selten spielt.

Ich hätte es früher ahnen können, dass es Martha war, die hier, in dieser Wohnung, gewohnt hatte, es gab Zeichen, die ich nicht zu deuten gewusst habe. Warum wäre ich sonst so sorgsam um den ihr gewidmeten Stolperstein herumgetänzelt? Ich habe solche Gebote des Innehaltens, des Nachdenkens nicht erkannt. Ich sage dir adieu, Martha, ein Grab, zu dem ich Blumen, vielleicht auch einen Klappstuhl bringen und mit dir weiterhin im Gespräch bleiben könnte, gibt es für dich nicht. Deine Asche wurde von der Eger fortgespült. Aber es gibt die Musik, sie hat dich immer begleitet. Für dich lege ich jetzt Gustav Mahlers "Zweite Symphonie! auf, die "Auferstehungssymphonie", du wirst sie kennen, auch ihren finalen Satz: "Sterben werd’ ich, um zu leben! Auferstehen, ja auferstehen wirst du."

Wie schätzen Sie die momentane Situation ein - die AfD gewinnt an Zulauf. Was können wir tun?

Aufklären, argumentieren, mit allen demokratischen Mitteln kämpfen. Das Beispiel Nordhausen zeigt, was möglich ist, wenn wir uns einig sind und zusammentun. Hier hat eine breite zivilgesellschaftliche Initiative mit ihrem entschlossenen Engagement verhindert, dass ein AfD-Mann Oberbürgermeister der Stadt wurde. Das ist das Eine. Das Andere: Wir müssen die im Amt befindlichen Bundespolitiker zu besseren Erklärungen ihrer Politik nötigen: Warum können wir nicht einfach die Grenzen schließen und so die weitere Migration stoppen? Und zu unbedingt nötigen Veränderungen: Dass immer noch das Asylrecht als Nadelöhr missbraucht wird, um nach Europa zu gelangen, muss dringend geändert werden. Nur ein winziger Bruchteil der zu uns kommenden Migranten erhält Asyl.

Wie gehen wir in Zukunft mit Geflüchteten um? Kann es geflüchteten Menschen überhaupt gelingen, in ihrer neuen "Heimat" anzukommen? Sich wohlzufühlen, sich einzugliedern?

Wir müssen jene, die zu uns gekommen sind, so schnell wie möglich in den Arbeitsprozess integrieren. Eigenes Geld zu verdienen, macht stolz, hebt die eigene Wertschätzung, man fühlt sich eher gleichberechtigt. Wenn man über längere Zeit ein Mündel des Wohlfahrtsstaates bleibt, schwindet das Selbstvertrauen und die Arbeitsmotivation. Erst mit der Arbeit wird auch gesellschaftliche Integration möglich. Ich spreche aus Erfahrung, ich habe acht Flüchtlinge mehr als fünf Jahre lang individuell betreut.

Machen andere es besser als wir?

Ja. Andere Länder erzielen bei der Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen größere Erfolge als wir. Auch dabei singen wir das hohe Lied der Bürokratie, weil wir längst eine Gesellschaft sind, die sich gegen jede denkbare Eventualität durch eine fixierte Bestimmung oder Verordnung absichern will.

Sind wir Deutschen zu larifari?

Wir müssen auch Abschied von den gut gemeinten, aber naiven Bunt-Szenarien nehmen. Wer sich bei uns integrieren will, muss wissen, dass er nicht in Afghanistan, sondern in Deutschland ist. Dass hier andere Regeln gelten als in der Herkunftsheimat. Ich halte klare Regeln für unerlässlich bei dem Integrationsprozess. Scheuen wir uns, diese auszusprechen und zu vertreten, gelten wir in den Augen vieler Geflüchteter als nicht ernst zu nehmende "Weicheier". Und die werden verachtet.

Macht Ihnen der Rechts-"Trend" in Deutschland Angst?

Ja. Ich glaube auch nicht, dass er sich plötzlich wieder in Luft auflösen wird. Die Bereitschaft, sich argumentativ mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen, sinkt. Überall in der Gesellschaft, nicht nur bei "den Rechten". Das stärkt den "autoritären Charakter", der vor allem bei der AfD zu Hause ist.

Machen die Bürger es sich zu einfach, wenn sie nur noch meckern?

An die Politiker wird von uns Bürgern ständig die Erwartung gerichtet zu "liefern" - mehr Geld, effiziente Krisenbewältigung, mehr Wohnungen, bessere Bildung, Schulen, Kitas und so weiter. Und zwar subito. Zeit wird nicht eingeräumt. Das ist die Abgabe von Verantwortung an "die da oben" - das bekommt einer Gesellschaft nicht.

Schuld sind ja oft auch "die Medien" ...

Die Autorin und Historikerin in ihrem Viertel in der Nähe des Bayrischen Platzes.

Die Autorin und Historikerin in ihrem Viertel in der Nähe des Bayrischen Platzes.

(Foto: IMAGO/Funke Foto Services)

Eine fatale Rolle spielen leider auch Teile der Journalisten, sie blasen am liebsten zur Jagd, anstatt Hintergründe zu recherchieren, nach Beispielen zu suchen, bessere Modelle vorzustellen usw. Auch das gehört zu ihren Aufgaben.

Wussten Sie vor den Recherchen zu Ihrem Buch eigentlich, dass Flucht mit so viel Bürokratie verbunden war, noch immer ist?

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Ja. Ich habe viele Flüchtlinge intensiv betreut, um sie in sozialversicherungspflichtige Arbeit zu bringen, ihnen möglichst zu einer Wohnung zu verhelfen, zu einer Ausbildung, einem Schulplatz, einem Kitaplatz, und ich habe sie als Lotsin durch sehr andere kulturelle Wertelandschaften begleitet. Ich habe ihnen die deutsche Sprache beigebracht, zweien von ihnen das Lesen und Schreiben - sie waren Analphabeten - und ihnen insbesondere bei den Berufsschulaufgaben geholfen. Wenn ich glaubte, nicht mehr alles schaffen zu können, habe ich nach engagierten Paten gesucht. Ich habe dadurch mit vielen Ämtern, vor allem auch mit der Ausländerbehörde, heute: Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, zu tun gehabt.

Wie lange haben Sie recherchiert?

Fast vier Jahre. Die Recherchen waren schwierig, weil meine Schützlinge keine Prominenten, keine Literaten waren. Sie selbst haben keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Aber man kann fündig werden, wenn man hartnäckig bleibt.

Mit Ingke Brodersen sprach Sabine Oelmann

Quelle: ntv.de

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