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Comic-Genie wäre 100 Franquin - der Herr des Chaos

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Mit "Gaston" schuf Franquin eine Hommage auf das moderne Büroleben.

Mit "Gaston" schuf Franquin eine Hommage auf das moderne Büroleben.

(Foto: Dupuis by Franquin 2023)

Er machte "Spirou" zum Comic-Klassiker, erfand Gaston und das Marsupilami. Und er rechnete in "Schwarze Gedanken" mit der Menschheit ab. Vor 100 Jahren wurde Franquin geboren, einer der wichtigsten Comiczeichner Europas.

Diese Haare! Links, rechts, oben, unten: überall Haare. Sie stehen ab, wuchern, wirbeln, sind unbezwingbar, unzähmbar. Und sie sind ein Markenzeichen von André Franquin. Für die Figuren des belgischen Comiczeichners ist jeder Tag ein "bad hair day". Was sie allerdings nicht weiter stört, denn im Grunde sind sie noch ihr kleinstes Problem. Die Haare sind nur Ausdruck der Unordnung, die um sie herum herrscht und der sie verzweifelt versuchen, Herr zu werden.

André Franquin (hier 1979) fing 1946 bei Dupuis an und übernahm als Neuling bald das Flaggschiff "Spirou und Fantasio".

André Franquin (hier 1979) fing 1946 bei Dupuis an und übernahm als Neuling bald das Flaggschiff "Spirou und Fantasio".

(Foto: André Franquin 1979 / Public Domain)

Chaos - das ist die Comic-Welt von Franquin, der vor 100 Jahren, am 3. Januar 1924, geboren wurde. Ob mit "Spirou und Fantasio", "Gaston" oder der Dschungel-Welt des Marsupilami: Franquins Helden und (zu selten) Heldinnen versuchen immer wieder aufs Neue, die Unordnung der Welt zu regeln, das Durcheinander zu ordnen, das Knäuel zu entflechten. Eine Sisyphusaufgabe.

Franquins Comics sind bunt, detailreich, brüllend komisch und anarchisch. Und sie sind stilprägend für ganze Zeichnergenerationen. Deshalb gehört der Belgier zu den Säulenheiligen des europäischen Comics, vergleichbar nur mit "Tim und Struppi"-Schöpfer Hergé oder den Asterix-Erfindern René Goscinny und Albert Uderzo.

Schöpfer eines ganzen Universums

"Tim und Struppi" von Hergé - Vorbild der Ligne claire.

"Tim und Struppi" von Hergé - Vorbild der Ligne claire.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Franquins Bedeutung wird vor allem im Gegensatz zu Hergé deutlich. Dessen Stil, die Ligne claire (klare Linie), steht für klare Umrisse der Figuren, vereinfachte Farbflächen und oft fehlende Schattierungen - was die Figuren zweidimensional und die Zeichnungen abstrahiert oder vereinfacht wirken lässt. Ganz anders Franquin: Seine Figuren strotzen vor Dynamik, ihre Beine und Arme scheinen aus Gummi zu sein, die Figuren wirken oft schlaksig. Die Bilder strotzen vor Details, hinzu kommen Linien, die die Bewegungen hervorheben, zudem ist die Farbgebung plastischer. Dem aufgeräumten Stil Hergés wird pure Dynamik entgegengesetzt. "Wie kann man uns nur vergleichen? Franquin ist ein großer Künstler, neben dem ich nur ein schlechter Zeichner bin", sagte Hergé einmal etwas zu bescheiden.

Franquin entwickelte diesen Stil der École Marcinelle (Schule von Marcinelle) - benannt nach dem Stadtteil von Charleroi, in dem der Verlag Dupuis bis heute sitzt - zur Meisterschaft, zusammen mit Kollegen wie Jijé ("Jerry Spring"), Peyo ("Die Schlümpfe") oder dem fast gleichaltrigen Morris ("Lucky Luke"). Von ersterem übernahm er 1946 auch die Serie "Spirou und Fantasio" und machte aus ihr eine der bedeutendsten Comicreihen Europas, indem er ab den 50er Jahren lange, komplexere Geschichten schrieb, die erst im "Spirou"-Magazin, danach aber auch als Alben erschienen. Zudem kreierte er jenes Universum, in dem die Titelhelden bis heute unterwegs sind, mit Nebenfiguren wie dem Grafen von Rummelsdorf, der Reporterin Steffanie oder dem nach der Weltmacht strebenden Zyklotrop.

Affen im Büro? Warum nicht? Szene aus "Die Bravo Brothers".

Affen im Büro? Warum nicht? Szene aus "Die Bravo Brothers".

(Foto: Franquin, Dupuis, 2012)

Aus Anlass von Franquins 100. Geburtstag bringt der Verlag Carlsen eine "Spirou"-Geschichte als Deluxe-Ausgabe mit umfangreichem Anhang heraus: "Die Bravo Brothers" wirkt wie ein Kulminationspunkt all dessen, was das Genie Franquins ausmacht. Die 22-seitige Geschichte ist schnell erzählt: Bürogehilfe Gaston schenkt Fantasio drei dressierte Zirkusaffen zum Geburtstag. Kenner der Serie wissen, wie das ausgehen muss: im völligen Chaos.

Zusammenbruch und Depressionen

Es ist herrlich mitanzusehen, wie die Affen mit Verve das Büro genauso zerlegen wie Fantasios Nervenkostüm. Und wie Gaston seelenruhig stetig mehr Öl ins Feuer gießt, während Spirou verzweifelt versucht, die Ordnung wiederherzustellen. Mit viel Detailreichtum lässt Franquin die Tiere ihre Tricks aufführen, als Artisten und Kunstschützen, Messerwerfer und Jongleure. Und er bringt immer mehr Figuren hinzu - den Vorgesetzten Demel, den Geschäftsmann Bruchmüller oder Wachtmeister Knüsel -, die unweigerlich mit ins Chaos gezogen werden.

"Was denn?" wurde zum klassischen Ausspruch Gastons, der sich wie stets keiner Schuld bewusst ist - hier eine Seite aus "Gaston im Schuber".

"Was denn?" wurde zum klassischen Ausspruch Gastons, der sich wie stets keiner Schuld bewusst ist - hier eine Seite aus "Gaston im Schuber".

(Foto: Franquin, Dupuis, 2013)

Anders als in den von Franquin entwickelten albenlangen "Spirou und Fantasio"-Abenteuern spielt diese Geschichte im Gaston-Universum und orientiert sich auch mit ihrer Gagdichte an dessen Soloabenteuern. Umso schöner, dass es hier ein Zusammentreffen der drei Comic-Helden gibt. Denn anders als Spirou und Fantasio hat Franquin den Antihelden Gaston 1957 selbst erfunden und damit die wohl schönste Persiflage des modernen Bürolebens geschaffen - der Titelheld arbeitet im Original übrigens beim Verlag Dupuis, in Deutschland entsprechend bei Carlsen.

Die andere berühmte Figur, die Franquin aus der Taufe hob, ist das Marsupilami, ein meist schwarz-gelbes Fantasietier aus dem Dschungel mit einem bis zu acht Meter langen Schwanz. Dieses Gimmick bietet sowohl unzählige zeichnerische Möglichkeiten (und Herausforderungen) wie auch die Vorlage für zahllose Gags. Einst von Spirou und Fantasio eingefangen und wieder freigelassen, kehrt das Marsupilami freiwillig zu ihnen zurück - und ist ab 1952 oft Teil ihrer Abenteuer, zumindest solange Franquin sie zeichnete.

Ein Strip aus "Schwarze Gedanken", Franquins Kommentar auf die menschliche Existenz.

Ein Strip aus "Schwarze Gedanken", Franquins Kommentar auf die menschliche Existenz.

(Foto: 2024 FLUIDE GLACIAL – Franquin)

Als Zeichner der "Spirou und Fantasio"-Geschichten sowie halb-, später ganzseitiger "Gaston"-Strips im "Spirou"-Magazin ist Franquin Ende der 50er-Jahre auf dem Höhepunkt seines Könnens angelangt - es ist eine goldene Zeit für die europäische Comickunst (1959 erscheint auch erstmals "Asterix"). Dass Franquin zeitweise auch noch für das Konkurrenz-Blatt "Tintin" zeichnet, erhöht jedoch den ohnehin schon immensen Druck. Ende 1961 bricht Franquin zusammen, erleidet eine schwere Depression sowie eine Gelbsucht. Erst zwei Jahre später arbeitet er weiter an "Spirou und Fantasio", gibt die Serie aber Ende der 60er-Jahre ab. Er behält jedoch die Rechte an Gaston und dem Marsupilami, deren Abenteuer er weiter zeichnet.

Bitteres Fazit menschlicher Existenz

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Doch noch einmal wird Franquin zum stilprägenden Künstler: "Schwarze Gedanken", entstanden ab 1977 unter dem Eindruck anhaltender Depressionen, ist eine Sammlung bitterböser Schwarz-Weiß-Comicstrips, in denen er sich auf sarkastische Weise mit der Menschheit auseinandersetzt. Wo Spirou immer für das Gute im Menschen steht, seziert Franquin hier eine egoistische, selbstzerstörerische und ignorante Gesellschaft, nimmt Militarismus genauso aufs Korn wie Tierquälerei und Umweltzerstörung. In einem der Strips etwa freut sich ein erschöpfter Wanderer, als er endlich in der Ferne Lichter sieht - die sich jedoch nicht als beleuchtete Häuser, sondern als glänzende Augen eines Rudels Wölfe entpuppen. Ein bitteres Fazit menschlicher Existenz.

"Das ist wie ein rußverschmierter Gaston", hat Franquin selbst über die Strips gesagt. So wie er in dem chaotischen Büroboten immer auch sich selbst sah, offenbaren die "Schwarzen Gedanken" seine andere, düstere Seite. Dass er sie trotzdem veröffentlichte, ist unter dem Eindruck einer neuen Comicwelle ab Ende der 60er- Jahre zu verstehen, gekennzeichnet durch gesellschaftskritische Werke für Erwachsene und neue, alternative Vertriebswege. Franquin, der Meister des klassischen Comicalbums, trieb damit seinen anarchischen Humor à la Gaston auf die Spitze.

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Gaston war es auch, den Franquin bis 1991 fortführte, bevor er den Zeichenstift ganz niederlegte. Bei der ab 1987 erscheinenden Serie "Die Abenteuer des Marsupilami" hatte er bereits eher beratend agiert, war an der Entwicklung einiger weiterer Comicserien und Figuren beteiligt. Doch jahrelang konnte er aufgrund schwerer Depressionen kaum arbeiten. Franquin starb in der Nacht vom 4. auf den 5. Januar 1997 in Nizza, kurz nach seinem 73. Geburtstag.

Da war er längst als einer der wichtigsten Comicautoren anerkannt und auch ausgezeichnet. Wichtiger ist aber: Das von ihm entwickelte "Spirou"-Universum lebt bis heute weiter, sowohl als fortlaufende Serie als auch in Sonderbänden verschiedener Künstler, darunter die bahnbrechenden Bände von Émile Bravo über Spirou im Zweiten Weltkrieg und "Spirou in Berlin" des deutschen Zeichners Flix. Dieser legte zuletzt auch mit "Das Humboldt-Tier" ein Marsupilami-Abenteuer vor. Nur Gaston erlebte lang keine neuen Abenteuer - das hatte Franquin so verfügt. Erst seit Dupuis 2014 die Rechte übernahm, erscheint er wieder in neuen Comicabenteuern.

Der Verlag Carlsen feiert Franquins 100. Geburtstag mit verschiedenen Veröffentlichungen. Dabei stechen die Deluxe-Ausgabe "Die Bravo Brothers" und eine fünfbändige "Gaston"-Ausgabe im italienischen Querformat hervor, die allerdings kein neues Material enthält - seine Abenteuer sind auch in 22 Bänden im günstigen Paperback erhältlich. In den kommenden Wochen folgen weitere Jubiläumsausgaben zu Gaston und dem Marsupilami sowie eine Neuauflage von "Schwarze Gedanken". Die umfangreiche Werkschau "Franquin - Meister des Humors" erschien bereits 2017.

Quelle: ntv.de

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