Ertrinken im Pazifik So anrührend kann das Sterben sein (und komisch)


Es lässt sich immer etwas über das Leben lernen.
(Foto: imago/Panthermedia)
Es ist kein Thriller und doch sollten Leser starke Nerven haben. Denn man begleitet einen eben noch glücklichen Mann nach einem Sturz in den Ozean bei seinen letzten Stunden. "Gentleman über Bord" ist ein grandioser Roman über Leben und Tod - und was ein einziger Fehltritt für Folgen haben kann.
Das Leben kann bekanntlich äußerst brutal sein. Ein dummer Zufall, eine einzige falsche Bewegung, ein Fehltritt - und schon befindet man sich in einer misslichen, gar tödlichen Lage. Henry Preston Standish ergeht es so. Er ist kerngesund, freundlich, kultiviert, durchaus vermögend, glücklich verheiratet und hat zwei Kinder, die er genauso liebt wie seine Frau. Doch mit 35 Jahren überfällt ihn eine merkwürdige seelische Starre, die man heute als Midlife-Crisis bezeichnen würde.
Der New Yorker Aktienhändler beschließt, das unsichtbare Korsett, das ihn einengt, loszuwerden, indem er das Weite sucht. Er geht auf Reisen und bucht - der Zufall spielt russisches Roulette - ein Ticket auf einem Schiff namens "Arabella". Der Aufbruch zu neuen Ufern tut dem Großstädter ebenso gut, wie sich treiben zu lassen. Standish entdeckt die Schönheiten der Natur, sich selbst und dass Erdbewohner außerhalb seines Standes existieren. "Zum ersten Mal in seinem Leben war er aufrichtig interessiert an außergewöhnlichen menschlichen Wesen", lesen wir.
Doch am 13. Tag der Schiffsreise rutscht Standish auf einem Ölfleck aus und landet im Pazifik. Von dem unheilvollen Fehltritt erfahren wir gleich zu Beginn des grandiosen Romans "Gentleman über Bord" von Herbert Clyde Lewis. Er erschien 1937 und fand wie so viele Bücher jener Zeit jahrzehntelang nicht den Weg nach Europa. Nun ist das Meisterwerk auf Deutsch erschienen: Der Hamburger Mare-Verlag hat es für uns an Land gezogen. Danke dafür.
Prinzipientreu bis zum Schluss
Lewis stammte aus einer jüdischen Einwandererfamilie aus Russland. Nach einem rastlosen Leben einschließlich Missbrauchs von Alkohol und Medikamenten erlag er 1950 mit 41 Jahren einem Herzinfarkt. Chronischer Geldmangel und Privatinsolvenzen sprechen dafür, dass es Lewis schwer hatte, sich finanziell über Wasser zu halten.
Parallelen zwischen Standish und seinem Erfinder zu suchen, mag spannend sein, ist aber nicht nötig. Der Roman lässt auch so sehr viele Deutungen zu. Vielleicht ist das Ableben des Gentlemans der Abschied von einer Welt, wie es sie nie wieder geben wird. Während er dem Untergang geweiht ist, siegt das Triviale. Ein demnächst Ertrinkender ist umgeben von Wasser - und hat Durst. Wie irre kann das Leben selbst in den Stunden vor dem Tod sein?
Gutes verkehrt sich in Böses: Der Ozean - Quelle des Lebens - wird zum (Wasser)-Sterbebett eines kerngesunden Mannes, der verdammtes Pech hatte und dem seine Herkunft im Wege steht, sich zu retten. Die Erziehung hat ihn "zum Gentleman verdammt", wie der Erzähler es formuliert. Im Wasser an- und der Schiffsschraube knapp entkommen, empfindet Standish mehr Scham als Angst, weil ihn der Kapitän auslachen könnte. Um Hilfe rufen? Schafft er nicht: "Die Standishs waren keine Schreihälse." Und unser Held ist nun mal ein waschechter Standish.
Erst zum Schluss fleht das Unfallopfer, das lange fest an seine Rettung glaubt, mehr oder weniger laut (und sinnlos) aus trockener Kehle: "Helft mir!" Das ist anrührend und herzzerreißend. Manch Leser(in) dürfte feuchte Augen bekommen und froh sein, bei der Lektüre auf der Couch oder in der Wanne zu liegen. Die von Lewis beschriebene Seefahrt ist überhaupt nicht lustig - und doch ist sie es, nämlich tragikomisch. Sie werden mich schon finden, denkt der Verunglückte, "da er doch den einzigen Makel auf dem unermesslichen Meer abgab".
Lehrstück über Ungerechtigkeit
Ironie und Sarkasmus ziehen sich durch das gesamte Werk. Der Autor nutzt sie aber nicht dafür, seine Figuren lächerlich zu machen oder zu verurteilen. Er wahrt damit Distanz zu ihnen und dem Geschehen. Lewis nimmt die Rolle des sorgfältigen Beobachters ein, was seine ganz große Stärke ist und dank der bravourösen Übersetzung des Literaturwissenschaftlers Klaus Bonn in der deutschen Ausgabe bestens rüberkommt, auch die Lakonie. Als die "Arabella" aus den Augen Standishs verschwindet, heißt es etwa: "Von da an war sein Leben nicht mehr dasselbe gewesen." In Standishs Lage eine absurde Feststellung, weil er (noch) nicht weiß, was wir längst wissen - und doch trifft sie es voll und ganz.
Überzeugend sind auch die Beschreibungen der anderen Passagiere. Der Farmer Nat Adams macht seine Reise, weil "zwei folgenschwere Dinge auf einmal geschehen (waren): eine gute Kartoffelernte und ein heftiger Anfall von Fernweh." Der Ozean begegnet uns als wunderschöner, mitleidloser, gleichgültiger Zuschauer des Dramas: kein Täter, aber eben auch kein Helfer. Mittendrin Standish. "Das Meer dehnte sich weiter aus als seine Hoffnungen." Erst kurz vor dem Tod "begriff er, wie unerbittlich die Stellung der Natur sich gegenüber allem Leben ausnahm".
Also eine Allegorie auf das ewige Thema "Mensch gegen Natur" und umgekehrt? Kaum. Obwohl es auch darum geht zu begreifen und zu akzeptieren, dass nichts kontrollierbar ist auf der Erde. In jedem Fall ist der Roman ein Lehrstück über Ungerechtigkeit. An einer Stelle heißt es: "Die Schurken lachten und lebten", während Standish sich auf den Tod vorbereitet. Vor allem dreht sich das Werk darum, wie sich das Leben von jetzt auf gleich verändern kann, wenn man nicht (auf sich) aufpasst. Man bedenke: Der Roman entstand und erschien während der Großen Depression, der schweren Wirtschaftskrise in den USA vor dem Zweiten Weltkrieg, als Millionen Amerikanern der Boden unter den Füßen verloren ging.
Das Buch als Kritik sozialer Verhältnisse in den 1930ern zu interpretieren, wäre definitiv übertrieben. Es handelt sich vielmehr um ein Spiegelbild der Gesellschaft und die Folgen von Denkfaulheit, Oberflächlichkeit, Gleichgültigkeit, Dummheit, Selbstzufriedenheit, Bequemlichkeit und Desinteresse an Mitmenschen. Denn dass Standish nicht gerettet wird, hat nicht nur mit Pech und Zufall zu tun. Die Besatzung und die wenigen Gäste der "Arabella" sind Meister des Verdrängens und des mehr oder weniger bewussten Wegsehens. Zu ihrer Ehrenrettung sei gesagt, dass auch sie wissen: Ein Mann vom Schlage Standishs stürzt nicht in den Ozean. Also einigt man sich rasch auf Suizid, gibt der unbekannten Ehefrau des Verunglückten die Schuld und malt sich aus, wie sie fremdgeht und sowieso ein Biest ist.
Davon erfährt Standish zum Glück nichts mehr. Er glaubt fest an das Gute im Menschen und speziell in seinen Zeitgenossen an Bord der "Arabella", ist deshalb sicher, dass sie ihn rasch vermissen und Alarm schlagen, um ihn vor dem Untergang zu bewahren. Ein tödlicher Irrtum. Und so heißt es denn auch kurz vor dem Ende des Romans über den Gentleman: "Merkwürdig, dass er so viel über das Leben lernen sollte zu einer Zeit, in der er nicht wirklich wusste, ob er lebendig oder tot war."
Quelle: ntv.de