Draufgänger in der Midlife-Crisis Der "katholische Bulle" räumt in Oxford auf
06.12.2015, 10:04 Uhr
Im Nordirland der 1980er-Jahre kommt es immer wieder zu heftigen Unruhen, wie hier in Portadown 1986.
Nordirland, 1985: Noch immer bestimmen blutige Unruhen den Alltag, als ein wohlhabendes Ehepaar tot aufgefunden wird. Die Mordermittlungen in seinem vierten Fall führen Sean Duffy bis nach Oxford - und bescheren ihm mächtige Gegner.
Bombendrohungen. Attentate. Unruhen. Als die britische Thatcher-Regierung Ende 1985 mit dem Anglo-Irischen Abkommen einen neuen Anlauf wagt, den religiös motivierten Nordirland-Konflikt politisch zu lösen, droht neues Ungemach. Erzürnt über das geplante politische Mitspracherecht von Katholiken, sorgen Protestanten Nacht für Nacht für neue heftige Unruhen. Die in Nordirland stationierten Soldaten sowie die Polizeikräfte der Royal Ulster Constabulary (RUC) stoßen an ihre Grenzen. Dazu kommt Regen. Sehr viel Regen.

Der irische Premier Garret FitzGerald und die britische Premierministerin Margaret Thatcher probieren 1985 mit dem Anglo-Irish Agreement, den Nordirland-Konflikt politisch zu befrieden.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
In diesen trostlosen Tagen wird nördlich der Hauptstadt Belfast das wohlhabende Ehepaar Kelly ermordet aufgefunden. Trotz der Überbelastung in seinem Revier reißt der protestantische Detective Sergeant McCrabban von der Carrickfergus RUC den kniffligen Fall voller Ehrgeiz an sich. Wieder einmal kann sich der Protestant dabei auf die Unterstützung seines katholischen Kollegen Sean Duffy verlassen: Der "katholische Bulle" stürzt sich in seinen nunmehr vierten Fall.
Duffys Ermittlungen laufen schnell ins Leere. Regelmäßig zahlte der Wettbüromagnat Ray Kelly Schutzgelder an die IRA und die protestantischen Paramilitärs, niemand scheint von seinem Tod zu profitieren. Nur dessen verschwundener Sohn Michael Kelly kommt als Täter infrage - doch der wird wenige Tage später an einer Klippe tot mit einem Abschiedsbrief gefunden, in dem er das Verbrechen gesteht. Die Sache scheint klar: Es handelt sich um ein Familiendrama.
Ein katholischer Nordire ermittelt in Oxford
Doch spätestens als es ein weiteres Todesopfer im Zusammenhang mit dem Kelly-Fall gibt, wird Duffy misstrauisch. Gemeinsam mit dem Polizeineuling Lawson reist er nach Oxford, um das ehemalige Umfeld des Ex-Studenten Michael Kelly unter die Lupe zu nehmen. Im englischen Nachbarland haben Iren in vielerlei Hinsicht keinen leichten Stand. Wenn auch noch ein katholischer Nordire auftaucht, schrillen nicht selten die IRA-Alarmglocken.
Allen Ressentiments zum Trotz ermittelt Duffy in den elitären Kreisen von Oxford. In der Universitätsstadt legt sich der abgebrühte Detective Inspector mit der örtlichen Polizei an, schüchtert einen Adligen ein - und stößt auf eine Reihe von Ungereimtheiten.
Duffy weiß, dass er nun niemandem mehr trauen kann. Doch dann taucht seine alte Liebschaft Kate wieder auf. Ausgerechnet Kate, die Mitarbeiterin des britischen Geheimdienstes MI 5, die ihm bereits viel Kummer bereitet hatte: Sie drängte Duffy einst zu den Ermittlungen in Amerika rund um den Unternehmer DeLorean und brockte ihm somit die Degradierung ein. Zudem vermittelte sie ihm den Fall um den ehemaligen IRA-Kämpfer Dermot McCann, der ihn fast das Leben kostete. Dennoch weiht Duffy sie erneut in seine Ermittlungen ein - und sie macht ihm ein verlockendes Angebot, das sein Leben verändern könnte.
Zu allem Überfluss kommen Duffy nach seiner Rückkehr in die Heimat die Beamten der nordirischen Geheimpolizei Special Branch in die Quere. Doch damit nicht genug: Als sich andeutet, dass Michael Kelly in internationale Waffengeschäfte verwickelt war, tun sich plötzlich noch mächtigere Gegner auf.
Nordirland-Krimi mit Tiefgang
Nach "Der katholische Bulle", "Die Sirenen von Belfast" und "Die verlorenen Schwestern" lässt Autor Adrian McKinty seinen draufgängerischen Ermittler Sean Duffy in "Gun Street Girl" zum nunmehr vierten Mal ermitteln - natürlich wieder mit einer Menge Duffy'schem Humor. Als McKinty seinem Verleger einst vorschlug, Krimis mit dem Kontext des Nordirland-Konflikts zu schreiben, soll dieser gesagt haben: "Das ist die schlechteste Idee, die ich je gehört habe." Mittlerweile zählt McKinty zu den besten Krimiautoren Nordirlands.
Mit "Gun Street Girl" unterstreicht McKinty seinen Ruf als Meister von Hard-boiled-Krimis. In dem vierten Teil der Duffy-Reihe zeichnet er in gewohnt erfrischender Erzählweise das Bild seines einsamen und "in die Jahre gekommenen Wunderkinds" Duffy. Um seiner Midlife-Crisis zu entfliehen, besucht dieser einen Datingabend der Kirche, stürzt sich in neue Affären und labt sich an unzähligen hochprozentigen Drinks.
Mehr als zuvor wird deutlich, dass Duffy genug hat von den "Troubles", der feindseligen Nachbarschaft sowie dem Job bei der überwiegend protestantischen RUC, in der offenkundig ein konfessionsübergreifendes Alkoholproblem herrscht. Der sonst hartgesottene "katholische Bulle" stellt nicht nur sich, sondern seine Heimat infrage: Wie sichert man eine Gesellschaft, die vor einem erneuten Aufruhr steht? Und wie ermittelt man in einem Mordfall, wenn ein Bürgerkrieg droht?
Hierin liegt die Stärke des neuesten Duffy-Krimis: Noch weiter als zuvor geht McKinty in die Tiefe und transportiert die bedrückende Atmosphäre im Nordirland der 1980er-Jahre in die Gegenwart. Gewohnt souverän bettet er seine fiktiven Handlungen in den wahren historischen Kontext ein, ohne die Geschichte zu verfälschen. Mit "Gun Street Girl" gelingt Adrian McKinty erneut große nordirische Krimikunst - mit Spannung und Tempo bis zum Schluss.
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Quelle: ntv.de