
Die Superyacht "Amore Vero", die dem Rosneft-Chef gehören soll, im März 2022 im Hafen von La Ciotat in der Nähe von Marseille.
(Foto: REUTERS)
Der französische Soziologe Grégory Salle hat ein Buch über "Superyachten" geschrieben. Es wirft einen Blick auf das Leben der Schwerreichen und dokumentiert detail- und faktenreich Auswüchse des Kapitalismus. Das werden nicht alle mögen.
"Ein Dummkopf findet immer einen größeren Dummkopf, der ihn bewundert." Der Sinnspruch wird Nicolas Boileau zugeschrieben, jenem französischen Schriftsteller, der im 17. Jahrhundert den Begriff "décadence" erfand. Er bezog sich auf die damals populären Vergleiche in der Kunst zwischen Gegenwart und Antike. Heute meint Dekadenz einen Entstehungs- und Verfallsprozess von Gesellschaften und Kulturen, der unabwendbar sei, weil das, was ursprünglich zum Aufstieg einer Zivilisation beiträgt, nach und nach degeneriere.
Der Soziologe Grégory Salle, ebenfalls Franzose, würde Boileaus Satz von den Dummköpfen ganz sicher unterschreiben. Der Pariser Politikwissenschaftler hat ein Buch vorgelegt, das eine noch junge Form der Bewundert-mich-Dekadenz zum Inhalt hat: Superyachten. Das Werk mit dem Untertitel "Luxus und Stille im Kapitalozän" erschien in seinem Heimatland wenige Monate vor Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, erhielt aber durch den Krieg eine sehr aktuelle Note; es wurde für die deutsche Ausgabe überarbeitet. Denn nie zuvor ist über die riesigen Schiffe (von russischen Superreichen) so viel berichtet worden wie seit dem 24. Februar 2022.
Salle, der sich politisch klar links positioniert, stellt fest: "Legt man die Produktions- und Konsumströme des Superyacht-Wesens übereinander, so erhält man eine der Physiognomien des weltweiten Kapitalismus." Seine Thesen und Erläuterungen zur Dekadenz der Schwerreichen, ihrer Impertinenz und Egomanie lassen sich so zusammenfassen: Nach dem großen Fressen kamen die hypergroßen Yachten. Die werden, wie der Soziologe nachweist, immer länger, immer größer, immer teurer - und immer beliebter.
Angriff auf die 200-Meter-Grenze
Die Auftragsbücher jedenfalls sind nach Salles Recherche voll. "Ende 2021 konnte man verkünden, dass über 1000 Yachten in Auftrag gegeben worden waren, obwohl im selben Jahr fast 900 verkauft worden waren, also fast doppelt so viele wie 2020." Nichts deutet auf ein Ende des Booms hin, da die Zahl extrem Vermögender - Corona hin, Krieg her - stetig zunimmt. Zu den Eigentümern der schwimmenden Luxusheime zählen neben Putin und den russischen Oligarchen andere Despoten, Monarchen, Leute aus dem Showbusiness und der Industrie, vor allem der USA. Die größte Yacht der Welt - "Stand Sommer 2022" - ist 180 Meter lang. Sie gehörte Scheich Chalifa bin Zayid Al Nahyan, dem im Mai 2022 verstorbenen Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate.
Die 200-Meter-Schwelle nennt Salle "zu verlockend", um sie nicht demnächst zu überschreiten. Kostenpunkt: mehr als eine Milliarde Dollar. Der Soziologe beschreibt den Wettlauf um immer größer und spektakulärer - gemessen an wissenschaftlichen Maßstäben - auf ungewöhnliche Weise. Ironie und Sarkasmus sind ein durchgängiges Stilmittel. Einzelne Yachten lässt er (überflüssigerweise) in der Ich-Form von sich erzählen. Die mitunter kindliche Tonalität passt nicht so wirklich zur pointierten und oft bissigen Erzählweise im Rest des Buches. Die Informationen aber sind erstaunlich und unbedingt lesenswert. Über eines der Schiffe heißt es: "Ich schlucke an die 2000 Liter Treibstoff pro Stunde, und Volltanken kostet annähernd eineinhalb Millionen Dollar."
Die unglaublich vielen Details nach jahrelanger Befassung mit Superyachten und ausgiebiger Recherche zu dem Thema sind die Stärke des Werkes. Immer wieder überrascht der Autor mit verblüffenden Aspekten, etwa zur Mobilität sehr reicher Leute und der damit verbundenen Folge, "sich von den gemeinsamen Grenzen freizumachen und auf Distanz zum gemeinen Volk zu gehen", was - gerade in Zeiten einer Pandemie - nirgendwo so leicht sein dürfte wie auf dem Meer in der "friedlichen Abschirmung", die ein Schiff mit Kino, Swimmingpool und Diskothek ermöglicht.
Lieber Yacht als Bunker
Das Fazit Salles lautet: "Wahrscheinlich hat der Survivalismus-Separatismus, wie die Reichsten ihn verstehen, gute Zeiten vor sich, und alles in allem ist eine Superyacht komfortabler als ein Bunker, und sei er noch so gut ausgestattet." Ein Landeplatz für Hubschrauber auf einem privaten Schiff zeugt aus Sicht des Franzosen "von der Hypermobilität, die für die 'globalisierte Hyperbourgeoisie' charakteristisch" sei, die sich mit einer Superyacht "einen privaten Raum" habe schaffen können, "der garantiert, dass man völlig unter sich bleibt", meistens auch unbehelligt von Polizei und Justiz, zum Beispiel bei Verstößen gegen Umweltschutzauflagen oder bei Geschäften zwecks Geldwäsche.
Wer politisch nicht oder nicht so weit links steht wie Salle, wird sich wahrscheinlich über das Genörgel des Politologen über das horrende Vermögen der anderen samt seiner Exzesse ärgern. Die ewige Kapitalismuskritik und das Klagen über die Superreichen mit ihren Superyachten müsste tatsächlich nicht sein, weil man sie nicht braucht, um das Buch zu verstehen. Da sind die Männer, die sich "schinden" beim Putzen des Schiffes, gar mit einer Zahnbürste, denen aber ein mit dem Namen der Yacht versehenes Polo-Shirt "nicht zusteht", als würde gerade das ihr Leben besser machen.
Salle schließt sich der These an, dass Piraten des 18. Jahrhunderts in der Karibik "den Zwängen ihrer Lage zu entfliehen suchten" und versucht hätten, "Macht demokratisch zu organisieren und Wohlstand egalitär zu verteilen". Das mag so gewesen sein. Aber dann kommt ein schräger Holzhammer-Vergleich. "Kaum drei Jahrhunderte später beherbergt diese Region Luxusyachten von einer Handvoll von Milliardären, die völlig entgegengesetzte Werte pflegen, aber dem kriminellen Stigma entgehen."
Allerdings wäre es viel zu kurz gegriffen, Salle die Neid-Keule überzubraten. Seine Kritik an den Auswüchsen des Kapitalismus ist generell berechtigt und notwendig, egal wie man zu Umverteilungsforderungen steht, die der Soziologe übrigens nicht ausdrücklich nennt. Er lässt Fakten sprechen, etwa wenn er unter Verweis auf einen Hersteller von Armaturen von einem russischen Kunden berichtet, "der auf seiner Yacht eine Dusche haben wollte, aus der nach Bedarf Wasser oder Champagner spritzt. Die Frage drehte sich nur darum, ob der Champagner warm oder kalt sein soll."
Gerade wegen solch ent- bis verrückt anmutender Storys wirbt Salle dafür, "Superyachten ernst zu nehmen, und sei es auch nur wegen des Enthüllungspotenzials" sowie als Mittel, "den generellen Wahnsinn zu messen, der Gesellschaftsordnung heißt". Denn, so meint der Soziologe: "Es gibt nicht die Welt der Superyachten, sondern die Superyachten und ihre Welt."
(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 09. April 2023 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de