
Dazuzugehören, das ist nicht nur für Kinder wichtig.
(Foto: imago/Gerhard Leber)
Der Bruder stirbt bei einem furchtbaren Vorfall, zurück bleibt Max, voller Schuldgefühle, allein und selbst in Not. "Die Molche" erzählt von Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg, Verrohung, Schweigen und wie es gelingen kann, dem zu entkommen.
Ein Wintertag im bayerischen Nachkriegsdeutschland, Kinder rodeln am Dorfhang und schliddern auf vereisten Pfützen. An diesem Tag stirbt der Bruder des elfjährigen Max. Er wird Opfer von Tschernik, den "jedes Kind im Dorf wegen seiner Brutalität und Verschlagenheit fürchtete". Tschernik hat um sich eine Gruppe von 13- bis 14-Jährigen geschart, die die ungeschriebenen Gesetze der Dorfkinder vor allem gegen Zugezogene grausam durchsetzen. Diese Gruppe wirft Ziegelsteine, bis Max' Bruder stirbt. Und Max wegläuft.
Das erste Kapitel von Volker Widmanns "Die Molche" hat es in sich. Daran ändern auch die beinahe idyllischen Beschreibungen des verschneiten Hügels und des gemauerten Bunkers nichts, in dessen Tiefe der Bruder in die Enge getrieben und getötet wird. Max bleibt nach diesem Tag mit riesigen Schulgefühlen zurück, während das Dorf die Tat als Unfall sehen will.
Doch es hat sich etwas verändert. Max, der als Flüchtlingskind nur schwer in die Dorfgemeinschaft findet, wird zwar weiter gepiesackt, doch nach dieser ungeheuerlichen Tat gibt es auch Verbündete. Der Junge freundet sich mit Heinz und Rudi an. Das alte Bahnwärterhäuschen machen sie zu ihrem Hauptquartier. Und da sind die Mädchen, Ellie, Charlotte, die Zwillinge Mia und Pia und vor allem Marga, die klug und mutig ist und nach Lavendelseife riecht.
Verheerende Sprachlosigkeit
Widmann zeichnet eine Gesellschaft, in der die Kinder nicht viel von den Eltern wissen und die Eltern noch weniger von den Kindern. Max und seine Freunde streunen durch den Wald, finden Rehknochen, fangen Molche und schnitzen. Sie teilen geheime Schätze und geben sich gegenseitig, was sie am meisten brauchen, Freundschaft und Loyalität.
Sie bereden, worüber sonst nur geschwiegen wird. Geld, Sex und Kriegsverletzungen sind irgendwie geheimnisumwittert und bedrohlich, obwohl jedes Kind spürt, dass diese unausgesprochenen Erfahrungen die Erwachsenen kaputt machen. "Meine Mutter erzählt manchmal Sachen von der Flucht", berichtet Heinz. "Vor den Russen. Waren's die Russen? Mein Vater sagt sowieso nie was. Nie. Der erstickt noch mal an seinem Maulhalten."
Nur wenn die Eltern prügeln, bricht all das vermutete Furchtbare aus den Müttern und vor allem aus den Vätern heraus. "Dann können sie nicht mehr aufhören." Plötzlich macht das Schweigen über den Tod von Max' Bruder Sinn. Und noch viel wichtiger wird es, sich Tschernik und seiner Bande nicht zu ergeben, ihre Tat nicht ungesühnt zu lassen. Im Lauf des Sommers wachsen die Kinder zu einer Gemeinschaft zusammen und schmieden Pläne, wie sie Tscherniks Macht brechen können.
Coming of Age nach dem Krieg
Widmann, geboren 1952, wählt für sein Debüt die Kinderperspektive auf die bekannte Geschichte von der sprachlosen Nachkriegsgeneration in Deutschland. Schweigende, abwesende oder prügelnde Väter, freundliche und liebevolle Mütter und Großmütter, Kinderbanden, erwachende Sexualität und ein Sommer, in dem sich vieles ändert. Das kennt man durchaus, Widmann fügt dem leider auch nichts Neues hinzu. Trotzdem lesen sich die 250 Seiten gut weg.
Das liegt an seiner Fähigkeit, Orte und Menschen mit wenigen Worten lebendig werden zu lassen. "Ich holte mein Rad aus der Garage und fuhr los. Der Regen hatte aufgehört. An der Spitze jedes einzelnen Blattes des Apfelbaums im Garten hing ein einzelner Tropfen, die Äste bogen sich unter der Last der unreifen Äpfel." An einen solchen Tag kann sich jeder und jede erinnern. Nur manchmal geraten Widmann die sprachlichen Bilder etwas schief oder er verliert sich in Schilderungen, die sich und damit auch die Lesenden von der Handlung entfernen. Ärgerlich sind hingegen die sexuell aufgeladenen Szenen zwischen den Kindern, die zudem der Geschichte etwas hinzufügen, was sie vermutlich nicht gebraucht hätte.
Überzeugend ist aber Max, der in seiner Verzweiflung Trost findet, trauern kann und in ein Leben hineinwächst, in dem er mit dem Verlust umgehen wird. Und selbst der brutale Tschernik ist am Ende mehr als nur der Dorfbully, sondern wie die meisten Menschen Täter und Opfer zugleich.
Quelle: ntv.de