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"Nebenan" von Kristine Bilkau Zwei Frauen kämpfen leise für ihr Lebensglück

Der Nord-Ostee-Kanal verbindet die große, weite Welt. Eine kleine Welt an seinen Ufern zeichnet Kristine Bilkau nach.

Der Nord-Ostee-Kanal verbindet die große, weite Welt. Eine kleine Welt an seinen Ufern zeichnet Kristine Bilkau nach.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Suche nach dem Glück treibt die Menschen an, und kann sie genauso zum Verzweifeln bringen. Kristine Bilkau blickt in "Nebenan" tief ins Innere zweier Frauen und beschreibt zugleich die Geheimnisse des Ortes, in dem sie leben. Damit ist ihr ein feinfühliger Roman gelungen.

Es ist der ewige Widerspruch zwischen Stadt und Land. Wer dort aufwächst, wo das Tor zur Welt eine rostbedeckte Bushaltestelle sein soll, ergreift die Flucht dahin, wo das Leben tobt, sobald es geht. Konsumverwöhnte Städter hingegen sind nach jahrelangem Ellenbogen-Einsatz in der U-Bahn zermürbt und werden schließlich übermannt von Wald-und-Wiesen-Romantik, dem Traum von Eigenheim und Ruhe. Beides sind mystifizierte Idealbilder, die letztlich nur Kind eines urmenschlichen Bestrebens sind: dem Wunsch nach Zufriedenheit.

Kristine Bilkaus Debütroman "Die Glücklichen" wurde bereits mehrfach ausgezeichnet.

Kristine Bilkaus Debütroman "Die Glücklichen" wurde bereits mehrfach ausgezeichnet.

(Foto: imago/VIADATA)

Diesen Wunsch hegt auch Julia, eine der beiden Protagonistinnen aus Kristine Bilkaus Roman "Nebenan". Die Enddreißigerin und ihr Mann lassen ihr altes Leben in Hamburg zurück und suchen das Weite, in einem verschlafenen Nest am Nord-Ostsee-Kanal. Drei Protagonistinnen müsste es eigentlich heißen, denn das Dorf spielt seine eigene Hauptrolle. Die nordische Idylle hält dabei nur auf den ersten Blick, was sie verspricht. Bei genauerem Hinsehen bröckelt die Fassade, statt dem erhofften Gemeinschaftsgefühl muss Julia schnell feststellen: Auch ein Provinzler ist sich selbst am nächsten.

Denn mit Luft und Liebe, das ist so eine Sache. Trotz eigenem Laden hakt es mit der Integration ins Dorfleben. Auch, weil Julia ihre eigenen Probleme herumschleppt: Zum frisch bezogenen Landhaus fehlt noch das passende Kind. Doch es will einfach nicht klappen, und das Ticken der biologischen Uhr wird - zumindest gefühlt - immer lauter. Darunter leidet die Beziehung zu Ehemann Chris, einem Biologen, dessen Ambitionen mehr im Umweltschutz liegen als im Familienglück - besonders dann, wenn es trotz teurer, medizinischer Behandlung in immer weitere Ferne rückt.

Die Traurigkeit liegt im Detail

In die Ferne, das wollte Astrid, die zweite Hauptfigur von "Nebenan", nie. Sie ist im Dorf aufgewachsen und lebt, mit Anfang sechzig, noch immer dort. Was sie vermisst, ist die Freundschaft zu ihrer Nachbarin Marli, die sich immer weiter von ihr entfernt hat. Zugleich führt Astrid mit ihrem Mann, dem leicht schrulligen Andreas, eine liebe- und vertrauensvolle Ehe. Dass es auch anders aussehen kann, muss die Ärztin mit eigener Praxis gleich zu Beginn des Romans feststellen. Sie wird zur Leiche einer Frau gerufen, die stundenlang in der Badewanne lag - der Ehemann will nichts bemerkt haben.

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"Es sind die Kleinigkeiten, es sind eigentlich fast immer die Kleinigkeiten, an denen sich das Traurige festmacht, denkt sie. Achtlosigkeit zwischen Erwachsenen ist keine Straftat. Achtlosigkeit, dafür gibt es auf dem Totenschein kein Kästchen zum Ankreuzen."

Julia und Astrid teilen das Schicksal der modernen Frau, an die der Anspruch gestellt wird, Privatleben und Beruf vereinen zu müssen. Die Wege der beiden überschneiden sich dabei zwar, jedoch ohne, dass sie sich bewusst begegnen. Als eine Familie aus dem Dorf scheinbar Hals über Kopf verschwindet, kümmert das Astrid wie auch Julia - sie sind die Einzigen. Und es passieren noch weitere, rätselhafte Dinge in der vermeintlichen Idylle Norddeutschlands. Astrid erhält plötzlich anonyme Drohbriefe, die heimatliche Sicherheit verliert schleichend an Substanz. Julia trifft auf einen unbekannten Jungen und die Begegnung lässt sie nicht mehr los.

Die Ruhe, mit der Bilkau in einfachen, aber prägnanten Sätzen ihre Geschichte erzählt, ist trügerisch. Je tiefer man eintaucht, desto verletzlicher, unsicherer werden ihre Charaktere. Irgendwann ist die Leserin oder der Leser förmlich dazu gezwungen, sich selbst ihn ihnen zu spiegeln. Wie gut kenne ich meinen Nächsten? Kann, oder will ich nur meinen Liebsten vertrauen? Diese Fragen stellt man sich unweigerlich. "Nebenan" zeichnet jedoch nicht nur feine, psychologische Linien, das Buch kritisiert an manchen Stellen offen den Zeitgeist. Wo Kollektivismus gefragt wäre, muss das Individuum alleine kämpfen, egal, ob es darum geht, mit seinen privaten Sorgen fertig zu werden, das Dorfsterben aufzuhalten oder ganz einfach darum, die Welt zu retten.

Die Last der Welt in einem Buch

Der Versuch Bilkaus, die modernen und postmodernen Probleme unserer Zeit unter einen Hut zu bringen, offenbart zugleich die Schwäche des Romans. An manchen Stellen wirkt der Stoff überladen, Themen wie Naturschutz, Rechtspopulismus oder häusliche Gewalt bekommen zwar ihren, durchaus berechtigten Platz, nur fehlt es an Raum, sie angemessen auszubreiten. Vieles bleibt angedeutet oder wird nicht aufgeklärt. Das ist aber mehr als entschuldbar, denn die in Hamburg lebende Schriftstellerin veranschaulicht die Wünsche, Sorgen und Nöte ihrer Protagonistinnen so pointiert, dass man selbst die verzweifeltsten Handlungen, die darauf folgen, nachvollzieht.

"Alles hier ist getrieben von Sehnsüchten, nach einer Welt ohne Brüche. Doch niemand hier wird ihre Sehnsüchte erfüllen, im Gegenteil, ihre Sehnsüchte sind wie eine Ware, sie werden genommen, weitergereicht und verwertet, ihre Sehnsüchte sind wie ein Rohstoff, von dem andere leben, doch sie, sie wird hier nichts finden, das Bestand hat."

So beschreibt Bilkau nicht nur die sozialen Medien, es ist auch eine Parabel über die Gefühlswelt der Bewohnerinnen und Bewohner dieses namenlosen Dorfes unweit des Nord-Ostsee-Kanals. Dass Astrid und Julia nicht an ihren Sehnsüchten zerbrechen, liegt an den Menschen um sie herum. Menschen, die wirklich wichtig sind, die da sind, wenn es darauf ankommt. In "Nebenan" begleitet man beide Frauen über fast 300 Seiten und kann am Ende erleben, wie sie ihren Optimismus, ihr Lebensglück und damit auch die Zufriedenheit zurückgewinnen.

Quelle: ntv.de

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