"Meine Stunden mit Leo" im Kino Auf der Suche nach einem Orgasmus
14.07.2022, 19:25 Uhr
Nancy (r.) schämt sich für ihr Verlangen nach Sex.
(Foto: IMAGO/ZUMA Press)
Nancy Stokes hatte noch nie einen Orgasmus. Das will die pensionierte Religionslehrerin ändern und bestellt sich einen Callboy. In "Meine Stunden mit Leo" brilliert Emma Thompson als Witwe auf der Suche nach sexueller Erfüllung.
Als es klopft, steht Nancy Stokes (fantastisch: Emma Thompson) die Anspannung ins Gesicht geschrieben. Sie zupft sich noch einmal ihren Rock zurecht, atmet tief durch, öffnet die Tür ihres Hotelzimmers und steht plötzlich einem bildschönen jungen Mann gegenüber. Leo Grande ("Peaky Blinders"-Star Daryl McCormack) ist ein Callboy, gebucht von der pensionierten Religionslehrerin, die in ihrem Leben bisher nur Sex mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann hatte - äußerst leidenschaftslosen Sex in der Missionarsstellung wohlgemerkt. Kein einziger Orgasmus ist aus den 31 Ehejahren hervorgegangen, nur zwei erwachsene Kinder, auf die sie, wenn sie ganz ehrlich ist, ganz gut verzichten könnte.
"Als mein Mann starb, habe ich mir geschworen, nie wieder vorzutäuschen", sagt Nancy dem jungen Mann, als sie unbeholfen auf dem Sofa Platz nimmt. Auf einen Orgasmus komme es ihr aber auch nicht an. Vielmehr wolle sie im letzten Drittel ihres Lebens "weltlich" sein, wie sie es ausdrückt. Und eine Frau von Welt hat nun mal Sex, im besten Fall sogar guten. Was genau sie von Leo Grande will, hat Nancy nach ausgiebiger Recherche in einer Liste festgehalten: Blowjobs, Doggystyle, 69er-Stellung ...
Besonders ihr erstes Treffen ist faszinierend anzusehen: Nancy ist eine Planerin, nervös, verkrampft und voller Widersprüche. Ihr Vorhaben möchte sie offensichtlich umsetzen, doch sie schämt sich für ihren Körper und für ihre Lust. Leo dagegen ist Profi durch und durch, er ist stolz auf den Service, den er anbietet und führt ihn mit Leidenschaft aus. Mit seinem ruhigen Auftreten und der richtigen Wortwahl schafft er es zumindest teilweise, die aufgebrachte Nancy etwas zu beruhigen. Und so tanzen die beiden zunächst buchstäblich um den Sex herum.
"Das Schwierigste gewesen, was ich je tun musste"
Dass sie für ihre Suche nach sexueller Erfüllung auf so etwas Verpöntes wie Sexarbeit zurückgreift, stellt für die reflexionierte Rentnerin aber auch ein moralisches Dilemma dar. Einen Moment lang ist sie sichtlich erleichtert, als er ihr vorgaukelt, mit seiner Berufswahl nur sein Studium zu finanzieren. Doch während Leo Grande, der eigentlich anders heißt, nur den Job machen will, für den er eingestellt wurde, bombardiert Nancy ihn mit persönlichen Fragen und lotet die Grenzen aus, die der Callboy zu wahren versucht. Mit dem Eindringen in seine Privatsphäre verursacht sie schließlich einen abrupten Stimmungsumschwung und sorgt für die nötige Portion Drama in der Handlung.
"Meine Stunden mit Leo" ist keine platte Mainstream-Comedy, in der eine Mittsechzigerin einen attraktiven Callboy in jeder denkbaren Stellung vögelt und sich vor lauter Ekstase heiser schreit. Es ist auch keine Liebesgeschichte, in der die beiden Hauptdarsteller am Ende zusammenkommen. Vielmehr ist der Film eine Charakterstudie von Emma Thompsons Figur, die lernt, wie man im höheren Alter mit sich selbst eins wird. Statt sexuell anschaulicher Szenen stehen ernsthafte, glaubwürdige Gespräche zwischen einer aufgewühlten Frau und einem feinfühligen Prostituierten im Mittelpunkt. Thompson und McCormack verbindet eine enorme Chemie, wobei die Britin aber den Großteil der schweren Arbeit übernimmt.
Die australische Regisseurin Sophie Hyde hat mit Nancy eine Person mit all ihren Unsicherheiten und Sehnsüchten in den Fokus ihres Films gerückt, die normalerweise aufgrund ihres Geschlechts und ihres Alters kaum Beachtung auf der Leinwand findet. Zum Schluss betrachtet sich eine splitterfasernackte Nancy mit Behaglichkeit im Spiegel. "Es ist das Schwierigste gewesen, was ich je tun musste", gab Thompson auf der diesjährigen Berlinale zu. Wenn sie vor dem Spiegel stehe, könne sie "nicht einfach dastehen"- "Ich ziehe etwas ein, drehe mich zur Seite (...) Das ist schrecklich. Aber das ist das Problem, nicht wahr?" Viele Frauen würden ihr Leben lang einer Gehirnwäsche unterzogen, um ihre Körper zu hassen. Dass die 63-Jährige diesen Schritt gewagt hat, beschert der Tragikomödie ein unglaublich berührendes Ende.
Quelle: ntv.de