Grüße nach Scharbeutz! Lord of the Lost ist nicht bange vorm Finale
12.05.2023, 13:24 Uhr
Feuer frei: Lord of the Lost bei einer Probe in Liverpool.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Mit "Blood & Glitter" vertreten Lord of the Lost am Samstag Deutschland beim ESC - weil das Publikum es so wollte. Doch nicht nur deshalb kann die Band ohne Furcht und Tadel in den Ring steigen. Vor dem Finale spricht Sänger Chris Harms mit ntv.de über "Mecker-Deutschland", einen "flirty Moment" und die Hoffnung, nicht zerstört zu werden.
ntv.de: Du wolltest zum ESC. Jetzt bist du beim ESC. Ist es besser, schlechter oder genau so, wie du es erwartest hast?
Chris Harms: Von besser oder schlechter kann man nicht reden, weil man ja zuvor gar keine Ahnung hat, wie es sich anfühlen wird. Ich würde sagen, es ist auf eine gewisse Weise überwältigend - einfach noch größer und mehr von allem! Zudem hätte ich nicht gedacht, dass es mich emotional tatsächlich so mitnehmen würde. Ja, das ist hier ein Wettbewerb, aber das spürt man nicht. Man wird das wahrscheinlich erst in dem Moment spüren, wenn die Abstimmung beginnt und man realisiert, dass es jetzt doch auch um etwas geht.
Dieses "familiäre" Gefühl ist sicher etwas, das den ESC ausmacht …
Ja, eigentlich ist es ein schönes Festival. Wir verstehen uns alle gut und unterstützen uns gegenseitig. Natürlich gibt es auch einige Artists, die keinen Bock auf den Kontakt mit anderen haben und sich abschotten, weil sie das vielleicht für sich brauchen. Aber auch das ist völlig in Ordnung und zu respektieren.
Einer der Programmpunkte, die ihr hier in Liverpool absolviert habt, war ein Akustik-Gig im legendären Cavern Club vor lediglich einer Handvoll Leute - eigentlich das komplette Gegenteil zum ESC …
Ja, das war ein toller Kontrast, nicht nur von der Größe, sondern auch von der Art des Konzerts. Beim ESC ist jedes Frame geplant - das Licht, das Feuer, die LED-Screens, wo ich in der Kamera hinschaue. Die Musik ist Halbplayback, der Gesang ist live. Es ist eine riesengroße Show. Was wir im Cavern Club gemacht haben, war dagegen so was von spontan, dass der Unterschied nicht größer sein könnte. Aber beides ist auf seine Art und Weise wunderschön.
Jetzt habt ihr schon ein bisschen Zeit in Liverpool verbracht. Was war denn, abgesehen von dem Auftritt im Cavern Club, dein persönliches Highlight hier?
Für mich war es tatsächlich die erste öffentliche Probe, bei der ich zum ersten Mal ein Gefühl für die Stimmung um uns herum bekommen habe. Witzigerweise waren wir da dann auch weniger nervös als zuvor, weil es für uns jetzt ein gewohntes Ambiente war. Bei den drei vorherigen Proben mit insgesamt sechs Durchläufen des Songs gab es andauernd noch Arbeit. Da hieß es: "Wir müssen das noch verbessern und das …" Nach dem sechsten Durchlauf haben wir dann an den letzten Stellschrauben gedreht - bei Kamera, Pyro, Licht und so weiter. Erst als dann wirklich alles stimmte, konnte ich mich entspannen.
Und dann seid ihr vor Publikum aufgetreten …
Ja, auf einmal waren dann 12.000 Leute in der Halle, die dich alle lieben. Einfach, weil ESC-Fans so sind. Die kommen nicht wie beim Fußballspiel nur für ihren einen, den sie anfeuern, sondern um mit allen zu feiern, auch wenn sie alle ihre Favoriten haben. So eine Situation ist aber nichts, was uns nervös machen würde, weil wir das von unseren Konzerten gewohnt sind. Wir sind also völlig frei von Nervosität rausgegangen, haben unser Ding gemacht und alles hat gestimmt. Ich war total glücklich! Es war auch so, als würde die Zeit langsamer laufen. Ich habe diese drei Minuten intensiv gespürt. Das hat - auf eine schöne Weise - sehr lange gedauert.
Kommen wir vom größten Glücksmoment zum skurrilsten Moment, den du hier in Liverpool erlebt hast. Den muss es in dem ganzen Trubel hier ja definitiv auch gegeben haben …
Ja, es gibt so skurrile Momente, die werden einem erst später bewusst, wenn man sich auf Aufnahmen quasi mit fremden Augen sieht. Da gab es auf dem türkisfarbenen Teppich zum Beispiel das schöne Dance Battle mit Käärijä aus Finnland. Das sieht unglaublich lustig aus, was man in dem Moment gar nicht so gepeilt hat. Oder es gab diesen einen flirty Moment mit Blanka aus Polen, als wir uns das erste Mal auf dem Teppich sahen und anguckten. Im Internet wird jetzt darüber diskutiert, was dieser Blickkontakt wohl zu sagen hatte … (lacht)
Was hatte er denn zu sagen?
Das sieht einfach ein bisschen wie in einem Disney-Film aus, in dem sich zwei Leute zum ersten Mal treffen und in die Augen schauen. Das ist ganz süß irgendwie. Aber was da so versprüht wird und welche Gerüchte daraus womöglich entstehen, bekommst du erst später mit. Herrlich! Ich habe damit kein Problem, sondern denke mir: "Sei einfach immer du selbst und authentisch." Dann ist es völlig egal, was ich mache. Wenn du dich nie selbst belügst, musst du auch niemand anderen anlügen. Wenn dann dabei so lustige Sachen herauskommen, bin ich mit solchen skurrilen Momenten happy.
Ich will noch einmal auf den deutschen ESC-Vorentscheid zurückblicken: Wäre es dort nur nach den Jurys gegangen, wärt ihr jetzt nicht in Liverpool. Erst das Votum der Zuschauerinnen und Zuschauer hat euch hierhergebracht. Hat euch das geärgert oder macht es euch nun besonders stolz, Deutschland als echte Publikumskandidaten beim ESC zu vertreten?
Ich habe mich im Vorentscheid tatsächlich sehr gefreut, dass Will Church so viele Punkte von der Jury bekommen hat. Er war am Anfang in allen Umfragen Letzter, was sicher eine ganz doofe Position ist. Außerdem mag ich seine Songs wirklich sehr gerne und finde, dass er ein hervorragender Sänger ist. Dann ging es weiter mit den vielen Publikumspunkten für Ikke Hüftgold, mit denen ich auch gerechnet hatte. Für mich stand eigentlich fest, dass es für uns nicht mehr geben würde …
Gab es dann aber doch …
Ja, dann kam die große Überraschung und das Erstaunen darüber, dass so viele Menschen aus der Nation hinter einem stehen. Da denkst du: "Wow! Da gibt es wirklich den Wunsch, dass wir da hinfahren. Vielleicht habe ich mir den lauten Applaus bei unserem Auftritt doch nicht nur eingebildet."
Hast du definitiv nicht …
Auf der Bühne bist du in deinem Adrenalinstrudel aber nicht wirklich in der Lage, das objektiv einzuschätzen. Jetzt sind wir wirklich super dankbar, dass wir das machen dürfen. Gleichzeitig gibt es aber natürlich auch zigtausend Hate-Kommentare in den sozialen Netzwerken. Leider ist das unsere Kultur in Mecker-Deutschland. Auch in den Mainstream-Medien tut ja leider keiner etwas dagegen - Jan Böhmermann, Klaas Heufer-Umlauf oder Sebastian Pufpaff feuern das stattdessen noch an. Das ist schade.
Vor dem Vorentscheid hast du uns in einem Interview noch erzählt, dass du für das Wochenende des ESC-Finales eigentlich schon Ostsee-Urlaub gebucht hattest. Konntest du den stornieren?
Stimmt, eigentlich wäre ich jetzt im Hotel BelVeder in Scharbeutz gewesen. Schöne Grüße!
Du hast es schon gesagt: Große Bühnen sind für euch an sich nichts Ungewöhnliches. Was ist an der ESC-Bühne dennoch anders?
Ja, wir sind große Bühnen gewohnt. Und die ESC-Bühne ist noch nicht mal die größte, auf der wir bisher gespielt haben. Es gibt Festival-Bühnen, die viel größer sind. Auch die Bühne auf unserer Tour mit Iron Maiden ist größer. Aber was Technik angeht, ist es auf jeden Fall das Krasseste, was wir bisher erlebt haben. Neben dem Superbowl ist die ESC-Bühne wahrscheinlich das Heftigste, was jedes Jahr aufgebaut wird. So etwas für uns selbst zu haben, ist unvorstellbar. Es gibt nur sehr wenige Künstler wie Ed Sheeran, die etwas in der Art abfeuern können. Davon sind wir meilenweit entfernt. Für uns ist das hier beim ESC deshalb eine große Ehre.
Du hast gesagt, bei der ersten öffentlichen Probe hättest du eigentlich keine Nervosität mehr verspürt. Meinst du, du wirst das auch beim Finale am Samstagabend alles so professionell wegstecken?
Es ist kein Zeichen von Professionalität, kein Lampenfieber zu haben. Die größten Profis haben Lampenfieber, für viele gehört das dazu. Sie brauchen das, um überhaupt das Endorphin- und Adrenalin-Level zu halten. Ich bin allerdings tatsächlich relativ guter Hoffnung, nicht allzu nervös zu sein. Wir machen das bis zum Finale ja noch ein paar Mal, auch mit Publikum. Und es ist, ohne das abwertend zu meinen, immer das Gleiche. Das ist wie bei einem Musikvideo, bei dem du einen Take vielleicht mehrmals drehst. Du machst einfach immer wieder das Gleiche für die Kamera, an der gleichen Stelle, mit den gleichen Gesichtsausdrücken. Da stellt sich irgendwann eine gewisse Routine und Sicherheit ein.
Trotzdem schauen im Finale dann nicht mehr "nur" 12.000 zu, sondern um die 200 Millionen …
Ja, aber ich glaube, das ist egal, wenn man es schafft, das Gefühl der Proben aufzusaugen und abzufeuern. Man sagt sich einfach: "Du machst das halt jetzt wie immer." Trotzdem kann man natürlich nicht komplett abschätzen, was in dem Moment passieren wird. Der eigene Körper produziert nun mal die krassesten Drogen. Und was er dir in diesem Moment letztlich als Trip anbieten wird, kannst du nicht wissen.
Du hast dir mit Sicherheit auch die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer schon einmal angesehen. Gibt es persönliche Favoritinnen oder Favoriten?
Natürlich. Was meinen musikalischen Geschmack angeht, höre ich in meiner Freizeit gerne Popmusik mit weiblichem Gesang. Das ist so mein Ding - und gar nicht Rock und Metal. Deshalb bin ich musikalisch ein supergroßer Freund des Songs "Bridges" von Alika aus Estland. Daneben ist Noa Kirel mit "Unicorn" aus Israel mein Favourite. Von der Show und vom Spaßfaktor ist Käärijä mit "Cha Cha Cha" bei mir weit vorn. Davon haben wir auch ein echt schönes Metal-Cover gemacht. "Queen of Kings" von Alessandra aus Norwegen hat eine unglaublich gute Energie. Und natürlich auch Loreen aus Schweden mit "Tattoo". Es ist echt schwer, sich zu entscheiden.
Der ESC findet in diesem Jahr in Liverpool statt, weil der Vorjahressieger Ukraine ihn wegen des Krieges nicht ausrichten kann. Ebenfalls wegen des Krieges ist Russland ja von dem Wettbewerb ausgeschlossen. Findest du das richtig?
Uns ist auf jeden Fall allen klar, dass wir hier eigentlich nicht unser Lied für Liverpool, sondern unser Lied für Kiew abliefern. Dass Russland von diesem Event wie von vielen anderen Veranstaltungen zum Beispiel im Sport kategorisch ausgeschlossen wird, ist für mich ein zweischneidiges Schwert. Ich verstehe die Message, die damit ausgesendet werden soll: Das ist ein ungerechtfertigter Angriffskrieg, das muss das Land zu spüren bekommen.
Aber?
Wir haben zugleich auch sehr viele russische Freunde, Bekannte und Fans, die überhaupt nicht hinter diesem Krieg stehen. Und auch nicht hinter Putin. Sie dürfen das aber noch nicht mal sagen, weil sie dann sofort in den Knast wandern würden. Ich bin mir sicher, dass es auch in Russland unglaublich viele Künstlerinnen und Künstler gibt, die gerne beim ESC angetreten wären und den Krieg absolut verurteilen. Sie haben es nicht verdient, nicht dabei zu sein. Aber nochmal: Ich verstehe die Bedeutung der Message, ein Land, das aktiv Krieg gegen ein anderes führt, von einem Contest auszuschließen, in dem es um "Unity" geht. Trotzdem wird das natürlich auch auf dem Rücken derer ausgetragen, die diesen Krieg nicht unterstützen.
Die letzte Frage kann ich dir nicht ersparen: Hand aufs Herz, welche Platzierung müsst ihr beim ESC mindestens erreichen, um nicht enttäuscht zu sein?
Im Moment würde ich sagen: Alles, was besser als der 15. Platz ist und sich eher in Richtung vordere Hälfte orientiert, wäre ein gutes Zeichen. Aber letztlich weiß ich es nicht. Vielleicht werden wir Letzter und sagen: "Das war eine so erfüllende und tolle Woche. Wir fahren jetzt nach Hause, schlucken das runter, gehen mit Iron Maiden auf Tour und machen weiter wie bisher, sind aber zehn Mal bekannter als vorher. Wir haben doch nichts verloren." Vielleicht würde ein letzter Platz aber auch etwas in dir auslösen und dich zerstören. Es kann schon sein, dass man dann anfängt, an sich selbst zu zweifeln und sich zu fragen, ob man das Richtige tut. Ich hoffe, die Erfahrung, herauszufinden, was das mit einem macht, bleibt uns erspart.
Mit Chris Harms von Lord of the Lost sprach Volker Probst
Quelle: ntv.de