"Das war wie ein Gebet" Ein ESC-Vorentscheid, der in Erinnerung bleibt
05.03.2022, 03:40 Uhr
Er setzte ein Zeichen - und gewann: Malik Harris.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Die Entscheidung ist gefallen: Malik Harris vertritt mit "Rockstars" Deutschland beim Eurovision Song Contest in Turin. Im Vorentscheid wird das vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs jedoch fast zur Nebensache. Und das, obwohl das Weltgeschehen weitgehend ausgeblendet wird.
Es hat ja durchaus schon so einige denkwürdige deutsche Vorentscheide zum Eurovision Song Contest (ESC) gegeben. Den zum Beispiel, in dem Interpreten wie Modemacher Rudolph Moshammer oder "Big Brother"-Blitzbirne Ztlatko Trpkovski "gesungen" haben. Oder den, in dem die No Names Elaiza gestandene Größen wie Santiano und Unheilig aus dem Wettbewerb kegelten. Und natürlich auch den, in dem der haushohe Sieger Andreas Kümmert vor laufenden Kameras seine Wahl nicht annahm und stattdessen die arme Ann Sophie zum Finale fahren und Letzte werden ließ.
Doch auch der Vorentscheid des Jahres 2022 unter dem Motto "Germany 12 Points" wird in Erinnerung bleiben. Mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern hat dies allerdings weniger zu tun als mit dem dramatischen Weltgeschehen, von dem auch diese Veranstaltung überrollt wurde. Der Spagat, einerseits eine unbeschwerte Musikshow abzuliefern, die andererseits aber auch dem Krieg in der Ukraine gebührend Rechnung trägt, gelingt dabei nur leidlich.
Ein symbolisches Zeichen zu setzen wird erst einmal in erster Linie den Zuschauerinnen und Zuschauern im Studio überlassen. Unter ihnen wurden nicht nur Fähnchen, sondern auch FFP2-Masken in Blau und Gelb verteilt. Während das Publikum also in den ukrainischen Landesfarben Fähnchen schwenkt und gleichzeitig Pandemie und Krieg trotzt, erklärt Barbara Schöneberger: "Nie war er wertvoller als heute, der Eurovision Song Contest". Viel mehr fällt der eigentlich als Allzweckwaffe für alle Lebenslagen bekannten Moderatorin nicht ein, um auf die außergewöhnlichen Umstände einzugehen.
Durch Mark und Bein
Auf ihrer "Wetten, dass..?"-Gedächtniscouch ist unterdessen ausgerechnet Comedian Bülent Ceylan der einzige Gast, der das Thema wenigstens irgendwie anklingen lässt. "Ich bin heute auch deswegen da, auch wegen der Völkerverständigung", erklärt der Metal-Fan etwa seinen ESC-Seitensprung. Und später in der Sendung merkt er an: "Wie schön ist es, dass wir hier in Deutschland, dass die Jugend hier so frei singen kann, ihre Meinung sagen kann. Ich hoffe, dass es immer so bleibt und dass es wieder so wird auf der ganzen Welt."

Die ukrainische Sängerin Jamala war der eigentliche Star der Show.
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Kurz zuvor war Jamala in der Show aufgetreten, die ukrainische ESC-Gewinnerin von 2016, die nun mit ihren zwei Kindern nach viertägiger Flucht aus ihrem Land in Deutschland angekommen ist. Ihren Mann musste sie zurücklassen. "Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, ob ich es geschafft habe, ihm zu sagen: 'Ich liebe dich'", ist einer ihrer Sätze, die durch Mark und Bein gehen.
Jamalas Auftritt als Pausenfüller mit ihrem ESC-Siegersong "1944", in dem es um die Deportation der Krimtataren unter Stalin geht und ein kurzes Interview mit ihr markieren den eigentlichen Solidaritätsbeitrag, mit dem der Vorentscheid aufwartet. Wenn man mal davon absieht, dass das Publikum im Verein mit Barbara Schöneberger, Conchita, Gitte Haenning und Texas-Lightning-Frontfrau Jane Comerford auch noch eine Runde "Ein bisschen Frieden" schmettern darf. Da kommt dann auch der ebenfalls zur Gästeschar zählende "Quatsch Comedy Club"-Erfinder Thomas Hermanns für einen Augenblick ins Grübeln. Das könne der ESC eben auch, sagt er mit Blick auf Jamalas Song. "Das war wie ein Gebet."
Entscheidung in Herzschlagfinale
In Sendezeit gemessen spielt all das nur eine untergeordnete Rolle, dennoch stellt es den eigentlichen Grund der Zusammenkunft nahezu in den Schatten. Aber hey, wir haben einen Künstler, der sich in das Abenteuer stürzt, am 14. Mai beim ESC-Finale in Turin für Deutschland anzutreten! Es ist Malik Harris, der zum Glück deutlich weniger Nervensägen-Potenzial hat als sein Vater Ricky bei der Moderation seiner einstigen, nach ihm benannten Sat.1-Talkshow.
Mit "Rockstars" hat der 24-Jährige einen Song im Gepäck, der irgendwo zwischen Michael Schultes "You Let Me Walk Alone" und "Arcade" von Duncan Laurence plus eingeschobenem Rap-Part schwankt. Schulte wurde 2018 beim ESC Vierter, der Niederländer Laurence gewann den Wettbewerb 2019. Die Chancen auf eine gute Platzierung für Harris stehen tatsächlich nicht schlecht.
Dabei fällt die Vorentscheidswahl erst in einem Herzschlagfinale auf ihn. Ein Online-Voting der ARD-Radiosender, das bereits am Montag gestartet war, sieht Maël & Jonas mit "I Swear To God" noch vorn. Doch das TV-Publikum findet an dem "jungen Otto Waalkes" und dem "An der Nordseeküste"-Klaus, die Bülent Ceylan in dem Duo wiedererkennen will, weniger Gefallen. Als sein 50-prozentiger Stimmanteil in das Gesamtergebnis einfließt, kippt die Entscheidung zu Gunsten von Harris. Die anderen vier Kandidatinnen und Kandidaten - Nico Suave & Team Liebe mit "Hallo Welt", Felicia Lu mit "Anxiety", Eros Atomus mit "Alive" und Emily Roberts, die bei der Präsentation von "Soap" einen bedauerlichen Texthänger hat - sind chancenlos.
"Stand with Ukraine"
Ganz sicher spricht für Harris, dass das hymnenhafte "Rockstars" aus dem ziemlich gleichtönigen Angebot beim Vorentscheid heraussticht. Vielleicht geben auch seine Performance und sein Erscheinungsbild auf der Bühne, die im Radio eben nicht abgebildet werden, am Ende für ihn den Ausschlag. Oder ist es der Umstand, dass unter den Kandidatinnen und Kandidaten wiederum nur er ein politisches Statement wagt? Als "Rockstars" verklungen ist und er seine Gitarre umdreht, kommt dort ein "Stand with Ukraine"-Schriftzug zum Vorschein.
Produziert wurde der deutsche Vorentscheid übrigens in einem Studio im Berliner Stadtteil Adlershof. Was vermutlich weder Jamala noch die meisten anderen im Saal wussten: Im selben Stadtteil, in derselben Straße, nur vier Hausnummern und ein paar Schritte entfernt, liegt auch das deutsche Redaktionsbüro des russischen Staatssenders "RT", der bis zu seinem EU-weiten Verbot am Mittwoch auch von hier aus die Gräuel in der Ukraine propagandistisch verharmloste. Auch das gehört zu dem Wahnsinn, den wir derzeit erleben.
Quelle: ntv.de