ESC-Teamchef im Interview "Tun alles, dass es nicht ganz hinten sein wird"
04.03.2022, 15:23 Uhr
So sähe er aus, der ESC-Siegerpokal.
(Foto: picture alliance / ROBIN UTRECHT)
Der Vorentscheid zum Eurovision Song Contest (ESC) ist zurück - unter der Last des Ukraine-Kriegs. Ab 21 Uhr stellen sich unter anderem im Ersten die sechs Acts zur Wahl, die sich um das deutsche Ticket für das Finale am 14. Mai in Turin bewerben. Im Interview mit ntv.de spricht der neue ESC-Teamchef Andreas Gerling nicht nur über die Kandidatinnen und Kandidaten, die antreten, sondern auch über die, die nicht antreten und den Solidaritätsbeitrag, den die Sendung mit Blick auf die Ukraine leistet.
ntv.de: Deutschlands Abschneiden beim ESC war in den vergangenen Jahren wenig zufriedenstellend. Wie schwer ist das Erbe, das Sie als neuer ESC-Teamchef nun angetreten haben?
Andreas Gerling: Zunächst einmal empfinde ich das als etwas sehr Wunderbares. Etwas, das sehr viel Spaß macht und voller Überraschungen ist. Es ist das größte Musikfestival der Welt, das wir gemeinsam vorbereiten dürfen. Die Veranstaltung hat 200 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer in ganz Europa und am Ende entscheidet immer das Publikum. Wie es ausgeht, kann man nicht vorhersagen oder planen. Und das ist auch gut so. Man muss in jedem Jahr wieder neu rangehen. Das haben wir in diesem Jahr mit einem neuen Auswahlverfahren auch getan.
Dazu gehört auch, dass sie den Vorentscheid überhaupt wieder zurückgeholt haben. In den vergangenen zwei Jahren gab es ihn in dieser Form nicht, was auch auf Kritik gestoßen war. Weshalb war es richtig, ihn nun wieder zu etablieren?
Der Vorentscheid ist natürlich eine sehr wichtige Veranstaltung. Nicht nur für die vielen ESC-Fans, sondern auch für unser gesamtes Publikum, dem wir so die Künstlerinnen und Künstler präsentieren können, damit es entscheiden kann: Wer soll Deutschland beim großen Finale vertreten? Die Veranstaltung hat eine lange Tradition in unterschiedlicher Ausprägung. Und sie gehört zur Geschichte des ESC natürlich dazu. Deshalb finde ich es richtig, dass wir sie in diesem Jahr wieder machen.
Dabei wurde der Vorentscheid in diesem Jahr in ein umfassendes Gesamtkonzept eingebettet - etwa mit der Bewerbung der Songs in den ARD-Radios oder einem Online-Voting zu den Beiträgen, das bereits seit Montag läuft. Wie zufrieden sind Sie damit bisher?
Richtig, ein Teil unseres diesjährigen Konzepts war, dass wir mit einem Titel nach Turin fahren wollten, den die Deutschen kennen und möglichst auch lieben. Dazu sind wir eine Kooperation mit den neun reichweitenstarken Popwellen der ARD eingegangen. Eine Jury aus den Musikchefinnen und Musikchefs dieser Wellen hat die sechs Titel, die nun zur Wahl stehen, aus etwa 950 gültigen Bewerbungen ausgewählt. Die Titel werden jetzt seit Wochen in den Radios gespielt und man sieht, dass sie alle auch in den deutschen Airplay-Charts vertreten sind. Sie und die Künstlerinnen und Künstler so bekannter zu machen, hat tatsächlich funktioniert. Aber ich weiß natürlich, dass es daran auch Kritik gegeben hat ...
Unter anderem gab es den Vorwurf, zur Auswahl stehe nur ein musikalischer Einheitsbrei.
Ja, und ich kann die Frage nach der musikalischen Bandbreite auch durchaus nachvollziehen. Wo ist der Schlager? Wo ist der Metal-Beitrag? Ich verstehe die Forderung von Fans, dass die Partizipation des Publikums eine noch größere Rolle spielen sollte, die auch über den Vorentscheid hinausgeht. Wir wollen das gemeinsam, auch mit den Fans, besprechen. Es gibt da viele Ideen und Diskussionen, die geführt werden. Ich möchte das jetzt bündeln, sodass wir dann gemeinsam schauen können, wie man das weiterentwickeln kann.
Explizit Knatsch gab es ja, weil die Bewerbung der Band Eskimo Callboy für den Vorentscheid nicht berücksichtigt wurde. War das ein Fehler?
Von einem Fehler möchte ich nicht sprechen. Wir hatten uns auf ein Verfahren und ein Regelwerk geeinigt, das allen Beteiligten klar war und mit dem auch alle Beteiligten einverstanden waren. Dieses Regelwerk sah vor: Wir haben eine Jury, die aussucht und entscheidet. Die Band Eskimo Callboy ist bis in die letzte Runde gekommen, aber am Ende hat sich die Jury dafür entschieden, sie nicht zum Vorentscheid zu schicken. Das ist zu akzeptieren.
Eine Petition, die Gruppe doch noch für den Vorentscheid nachzunominieren, hat bis heute knapp 130.000 Unterschriften gesammelt. Weshalb sind Sie dem nicht nachgekommen?
Wir haben mit den Initiatorinnen und Initiatoren der Petition gesprochen. Aber es war klar, dass wir in diesem Jahr am Verfahren nichts ändern wollen. Dennoch werden wir das Gespräch fortsetzen und sehen, was das für das Folgejahr bedeutet und wie wir hier weitergehen.
Nun stehen, wie gesagt, sechs Beiträge zur Wahl. Verraten Sie mir, ob Sie - ohne einen Namen zu nennen - einen persönlichen Favoriten haben oder schaffen Sie es als ESC-Teamchef tatsächlich, komplett neutral zu bleiben?
Ich bin komplett neutral. Aber ja, ich habe einen persönlichen Favoriten. Oder eine Favoritin. Wer weiß? (lacht) Aber ich drücke natürlich allen gleichermaßen die Daumen. Sie sind alle mit so viel Herzblut, Freude und Liebe zur Musik dabei. Das ist wirklich großartig. Und am Ende entscheidet das Publikum.
Leider findet der Vorentscheid nun im Schatten des Ukraine-Kriegs statt. Die Sendung wird darauf auch Bezug nehmen, etwa mit dem Auftritt der ukrainischen ESC-Siegerin Jamala des Jahres 2016. Und anders als angedacht, wird sie nun doch auch im Ersten gezeigt und nicht "nur" in den dritten Programmen …
Ja, das haben wir kurzfristig entschieden. Der Vorentscheid findet nun etwas anders statt als ursprünglich geplant. Wir betten ihn ganz bewusst in einen Solidaritätsbeitrag der ARD für die Ukraine ein. Der Grund liegt auf der Hand: Der ESC trägt die Völkerverständigung quasi in seiner DNA. Er verbindet Menschen verschiedener Kulturen und kennt keine Grenzen. Auch durch so ein Event Menschen und Länder zusammenzuführen und Brücken zu bauen, ist wichtiger denn je.
Die Europäische Rundfunkunion EBU hat zunächst länger damit gerungen, Russland vom diesjährigen ESC auszuschließen, sich dann aber letztlich doch dafür entschieden. Finden Sie das richtig?
Wir haben dazu eine ganz klare Haltung gehabt und haben sie immer noch: Die EBU hat das absolut richtig entschieden.
In sozialen Netzwerken wird derzeit spekuliert, dass der ESC in diesem Jahr ohnehin bereits entschieden sei. Stand jetzt plant die Ukraine weiterhin, an ihm teilzunehmen. Viele gehen davon aus, dass sie zum Sieger gekürt und damit ein politisches Zeichen gesetzt werden wird. Wie sehen Sie das?
Derzeit spricht sicher vieles dafür. Der Titel der Ukraine steht fest und es ist richtig und gut, wenn sie mit ihm in Turin auftritt. Aber am Ende entscheiden die Jurys und das Publikum. Wir sind alle keine Hellseher, die heute vorhersagen könnten, was am 14. Mai passieren wird.
Zurück zum deutschen Beitrag: In der Vergangenheit wurde zumeist eine Top-Ten-Platzierung als Ziel genannt. Was sind Ihre Ambitionen in diesem Jahr?
Jetzt muss erst einmal das Publikum entscheiden, wer nach Turin fährt. Dann geht unsere Arbeit damit weiter, wie wir den Titel in Turin inszenieren und präsentieren wollen. Erst dann und wenn wir auch das gesamte Wettbewerbsumfeld kennen, kann man vielleicht mal damit beginnen, eine Einschätzung abzugeben. Aber natürlich bleibt das Ziel: Wir wollen eine starke Performance abliefern und das Publikum mit unserer Künstlerin oder unserem Künstler überzeugen. Dabei haben wir schon die Hoffnung und werden alles dafür tun, dass es nicht ganz hinten sein wird. Darauf würde ich heute sogar eine Wette abschließen.
Mit Andreas Gerling sprach Volker Probst
Quelle: ntv.de