"Wir wurden im Stich gelassen" Corona-Krise in Italien wird Fall für die Justiz
10.06.2020, 18:42 Uhr
		                      Friedhof bei Bergamo: Viele Angehörige wollen das Sterben ihrer Liebsten nicht einfach auf sich beruhen lassen.
(Foto: REUTERS)
34.000 Virustote in Italien - die Statistik steht für traumatische Einzelschicksale: Menschen, die sich nicht von ihren Verwandten verabschieden konnten und dann einen Müllsack mit blutigen Kleidern in die Hand gedrückt bekamen. Auch die Regierung in Rom muss sich nun Fragen der Justiz gefallen lassen.
Die italienische Justiz hat Untersuchungen wegen des Umgangs der Regierung mit der Corona-Krise eingeleitet. Auch Regierungschef Giuseppe Conte solle dabei befragt werden, berichteten italienische Medien. Gleiches gelte für Gesundheitsminister Roberto Speranza und Innenministerin Luciana Lamorgese. Die Untersuchungen führt den Angaben zufolge die Staatsanwaltschaft von Bergamo, wo es besonders viele Corona-Opfer gab.
Bei den Untersuchungen gehe es vor allem um das mögliche Versäumnis der Regierung, besonders betroffene Gebiete als sogenannte "Rote Zonen" auszuweisen und so die Ausbreitung des Virus zu stoppen, hieß es aus Ermittlerkreisen. In Italien sind bislang nach offiziellen Angaben mehr als 34.000 Menschen an den Folgen einer Coronavirus-Infektion gestorben.
Am Dienstag waren auch in Frankreich vorläufige Ermittlungen wegen Vorwürfen der "fahrlässigen Tötung" in der Corona-Krise eingeleitet worden. Der Pariser Staatsanwalt geht Dutzenden Klagen über die Gefährdung von Leben durch staatliche Entscheidungsträger nach. Präsident Emmanuel Macron kann wegen seiner Immunität aber nicht belangt werden.
Sammelklage in Bergamo: "Wahrheit und Gerechtigkeit"
Mit einer Sammelklage gegen Unbekannt wehren sich 50 Angehörige von Opfern der Corona-Pandemie in Italien gegen den Umgang der Behörden mit der Krise. Die Strafanzeige wurde bei der Staatsanwaltschaft der besonders schwer betroffenen Stadt Bergamo in der Lombardei eingereicht, weil diese zum Symbol der landesweiten Corona-Welle wurde, erklärte Mitinitiator Stefano Fusco. Weitere 150 Klagen seien in Vorbereitung.
Der 31-Jährige hatte nach dem Tod seines Großvaters im März in einem Pflegeheim die Facebook-Gruppe "Wahrheit und Gerechtigkeit für die Opfer von Covid-19" gegründet, um mit anderen Angehörigen Kontakt aufzunehmen, die ähnliche Dramen erlebt haben. Inzwischen hat die Gruppe 55.000 Mitglieder. "Wir wollen keine Rache, wir wollen Gerechtigkeit", sagte Fusco.
Bei der Staatsanwaltschaft in Bergamo laufen bereits weitere Verfahren wegen der vielen Corona-Toten seit Ausbruch der Epidemie im Februar. Örtliche Familien werfen den Behörden der Region Lombardei vor, Sperrzonen zu spät eingerichtet und durch jahrelange Kürzungen im Gesundheitswesen die Krise verschärft zu haben.
"Sie vergaßen, uns zu informieren"
Bei den nun eingereichten Klagen geht es auch um einzelne Schicksale inmitten der Krise. Die Apothekerin Cristine Longhini etwa erzählt, wie der Rettungsdienst sich zunächst weigerte, ihren schwer kranken Vater Claudio ins Krankenhaus zu bringen, solange er keine massiven Atemprobleme habe. Als der 65-Jährige schließlich in eine Spezialklinik für Covid-19-Patienten nach Bergamo gebracht wurde, gab es auf der Intensivstation kein freies Bett mehr.
Als er starb, "vergaßen sie, uns zu informieren", berichtet Longhini. Und als die 39-Jährige ins Krankenhaus musste, um ihren Vater zu identifizieren, "gaben sie mir seine persönlichen Gegenstände in einem Müllsack, darunter seine kontaminierte, blutige Kleidung". Wegen der überfüllten Friedhöfe wurde der Sarg mit der Leiche von Longhinis Vater per Armeelastwagen weggebracht. Wohin er gebracht wurde, erfuhr die Familie erst, als sie die Rechnung eines 200 Kilometer entfernten Krematoriums erhielt. Sie habe sich nun zu der Klage entschlossen, weil sie und ihre Mitstreiter denken, dass die Krise nicht "angemessen gehandhabt wurde", sagt Longhini. "Niemand übernimmt Verantwortung, niemand hat sich entschuldigt."
"Wir wollen kein Geld"
Diego Federici, der beide Eltern verlor, betont, es gehe bei der Anzeige nicht um Geld: "Wir wollen keine Entschädigung. Keine Geldsumme kann mir meine Eltern zurückgeben". Der 35-Jährige und seine Mitkläger wollten vielmehr, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden und "dass so etwas nie mehr geschehen kann".
Stefano Fuscos Vater Luca, der Vorsitzende des hinter der Sammelklage stehenden Komitees "Noi Denunceremo" (Wir prangern an), forderte Aufklärung darüber, wie die Provinzen Bergamo und Brescia mit dem Notstand umgegangen seien, "um zu verstehen, wer genau welche Fehler gemacht hat".
Ähnlich äußerte sich auch Laura Capella. Die 57-Jährige fing an zu weinen, als sie vom Tod ihres Vaters erzählte, der auf völlig überforderte Ärzte traf. Er sei gestorben, "ohne dass ich mich von ihm verabschieden konnte", sagt sie. "Wir wurden im Stich gelassen, und wir fühlen uns immer noch im Stich gelassen."
Quelle: ntv.de, mau/AFP