Eigeninitiative auf dem Land Haitianer sind außergewöhnlich
13.01.2011, 07:22 Uhr
Das WPF-Projekt in Duvillon-Lagarde ist Hilfe zur Selbsthilfe.
US-Schauspieler Sean Penn kritisiert die Arbeit der Hilfsorganisationen in Haiti. Sie würden nicht die Eigenverantwortung der Leute fördern. Ein Projekt in einem haitianischen Dorf hinterlässt einen ganz anderen Eindruck.
Seit dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 bin ich in meiner Funktion beim "World Food Programme" (WFP) einige Male in Haiti gewesen. Und immer wenn ich nach Hause komme, erwarten mich dieselben Bedenken meiner Freunde: Die Lage wird doch nicht wirklich besser, oder?
Ungläubig verfolgten Millionen Menschen weltweit die Katastrophe, die sich auf ihren Fernsehschirmen in den Stunden, Tagen und Wochen nach dem Erdbeben abspielte. Viele zeigten eine vorher nie dagewesene Großzügigkeit, indem sie die Organisationen unterstützten, die den Opfern in einer der größten humanitären Katastrophen der Weltgeschichte beistanden.
Ohne Zweifel, die humanitären und sozioökonomischen Herausforderungen, vor denen Haiti ein Jahr nach dem Erdbeben steht, sind enorm. Schließlich ist das Land eines der weltweit ärmsten – über die Hälfte der Bewohner lebt von weniger als einem Dollar pro Tag. Und dennoch lässt sich Hoffnungsvolles berichten.
Eine unglaubliche Willenskraft
Seit ich 2004 das erste Mal nach Haiti kam, habe ich immer wieder aufs Neue die Unverwüstlichkeit der Einheimischen erlebt. Sie haben die politische Instabilität durchgestanden, sich mit steigenden Lebensmittelpreisen arrangiert sowie Hurrikans, Überschwemmungen und Erdbeben überlebt. Haitianer verfügen über eine außergewöhnliche Stärke, die ihnen stets geholfen hat, die unglaublichsten und menschenunwürdigsten Situationen zu meistern.

Duvillon-Lagarde ist eine abgelegene und hügelige Gemeinde im Südosten Haitis. Abholzung und Erosion haben den Bewohnern nur noch wenige Lebensgrundlagen hinterlassen.
Wer Zusammenhalt und mentale Stärke hier erlebt hat, wird den Haitianern zutrauen, einen Weg aus dem Teufelskreis aus Hunger und Armut zu finden. Zusammen mit nationalen und internationalen Einrichtungen und Organisationen werden sie grundlegende Änderungen herbeiführen und das Land so vor zukünftigen Katastrophen schützen.
Im Oktober 2010 wurde ich das letzte Mal Zeuge der haitianischen Solidarität und Willenskraft, als ich Duvillon-Lagarde, ein kleines Bergdorf in Südost-Haiti, besuchte. In Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden und anderen Organisationen der UN hatte WFP dort ein sogenanntes "Cash-and-Food-for-Work"-Programm ins Leben gerufen.
Flucht in die Stadt und wieder zurück
2008 war ein besonders schwieriges Jahr für den von Hurrikans und einen Tropensturm heimgesuchten Südteil Haitis. Feldfrüchte und Nutztiere wurden weggespült und noch mehr des ohnehin schon knappen fruchtbaren Ackerbodens verschwand. Der Hunger zwang die Leute massenhaft in die Stadt. Und so lebten vor der Katastrophe etwa vier Millionen Menschen in Port-au-Prince, in einer Stadt, die höchstens für ein paar Hundertausende Bewohner ausgelegt war.
Eine von ihnen war die 28-jährige Vanise Jean Pierre, eine alleinerziehende Mutter zweier Kinder, die sie nicht länger ernähren konnte. In der Hoffnung dort eine Arbeit zu finden, zog sie nach Port-au-Prince. Sie kratzte sich ihren Lebensunterhalt als Straßenverkäuferin zusammen und schickte einen Teil ihres Einkommens an ihre Brüder und Schwestern in Duvillon-Lagarde. Das Erdbeben vom 12. Januar überlebte Vanise, verlor dabei jedoch ihre wenigen Besitztümer. Wie 600.000 andere auch verließ sie Port-au-Prince und kehrte nach Duvillon-Lagarde zurück – eine andere Option blieb ihr nicht.
Hilfe zur Selbsthilfe

Die 28-jährige Vanise Jean Pierre ist Witwe und Mutter von zwei Kindern. Sie hat sich in Port-au-Prince als Straßenverkäuferin durchgeschlagen.
Mittlerweile war ein Projekt auf den Weg gebracht worden, mit dem die Landwirtschaft um Duvillon-Lagarde wieder angekurbelt werden sollte. Und zwar auf Initiative der Dorfbewohner selbst, wie Bürgermeister Gaston Cesar erklärt. Sie hatten realisiert, dass sie niemals die Probleme der Entwaldung und Erosion lösen würden, wenn sie ihre knappen Ressourcen nicht gemeinsam einsetzten. Sie hatten realisiert, dass sie technische Beratung brauchten, um sich durch die Landwirtschaft selbst zu ernähren. Sie baten die "United Nations Food and Agriculture Organization" um Hilfe und entwickelten in Abstimmung mit Experten von Haitis Landwirtschaftsministerium Pläne zur Umsetzung. WFP stellte den Bauern Essen und Bargeld zur Verfügung. So sollte sichergestellt werden, dass die Familien während der Wiederaufbauarbeit versorgt sind.
Bei einer Bergtour an einem verregneten Oktobertag erklärt Gaston Cesar mir stolz die unterschiedlichen Arbeitsschritte: Als erstes wurden Terrassenanbauflächen in den Berghang eingelassen und ein System zur Wassernutzung etabliert. Die Terrassen sollen zukünftige Erosionen verhindern und den Bewohnern die Nutzung ihrer Anbauflächen ermöglichen. Auf einigen Flächen wurden kollektive Gemüsegärten angelegt.Ein Truck mit Kühen ist auf dem Weg ins Dorf. Die Herde wird die Gemeinde zukünftig mit frischer Milch versorgen. Neugeborene Kälber werden dann unter den Dorfbewohnern im Rotationsverfahren aufgeteilt – und sogar eine Molkerei ist in Planung. Für die ferne Zukunft träumt Gaston Cesar davon, die Schotterpiste von Duvillon-Lagarde nach Marigot zu sanieren, um einen besseren Zugang zum lokalen Markt zu bekommen.
Landwirtschaft als Rückgrat
Die Bewohner von Duvillon-Lagarde isnd drauf und dran, jenen Teufelskreis aus Hunger und Armut zu durchbrechen - und Vanise Jean Pierre hat keinen Grund, das Dorf zu verlassen. Das Essen und das Geld von WFP helfen ihr, sich um ihre Familie zu kümmern. Auf lange Sicht wird sie eigenständig und als Selbstversorgerin leben.
Das Projekt ist wie maßgeschneidert für die Wideraufbaustrategie der haitianischen Regierung, für die das Schlüsselwort Dezentralisierung ist. Denn damit die Grundprobleme Haitis gelöst werden können, müssen die Bewohner massenhaft aus Port-au-Prince in die ländlichen Regionen – dem eigentlichen Rückgrat der haitianischen Wirtschaft - zurückkehren Die Möglichkeit, sich dort selbst zu versorgen, bietet ihnen einen triftigen Grund dafür.
Keine Frage, Haiti hat mit enormen Problemen zu kämpfen. Aber wer nach Duvillon-Lagarde blickt, wird auf mutige und optimistische Haitianer stoßen, Haitianer, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen und gemeinsam für eine nachhaltige Entwicklung kämpfen. Es sind Leute wie sie, die es mir schwer machen, die Einwände meiner Freunde zu teilen.
Quelle: ntv.de