Panorama

Natascha Kampusch Kleine Schritte in die Freiheit

Nur auf den ersten Blick wirkt sie selbstbewusst. Wirklich frei fühlt sich Natascha Kampusch vier Jahre nach ihrer Flucht noch nicht. Vor allem mit Gefühlen hat sie Probleme. Aber sie probiert sich aus, und in zehn Jahren will sie glücklicher sein.

Natascha Kampusch veröffentlich ihre Biografie - für sie ein weiterer Schritt in Richtung Normalität.

Natascha Kampusch veröffentlich ihre Biografie - für sie ein weiterer Schritt in Richtung Normalität.

(Foto: picture alliance / dpa)

Diese Frau will für die Welt nicht ein gebrochenes Opfer sein. Selbstbewusst tritt Natascha Kampusch zum Interview ins Hotelzimmer in ihrem Urlaubsort Mariazell: taubenblaues Kleid mit tiefem Ausschnitt, hohe Pumps mit kleiner Plateausohle, eine modische Kugelkette. Alles farblich perfekt abgestimmt.

Doch die verkrampften Hände verraten die Nervosität. Die 22-Jährige spricht erst nur leise, sorgfältig und mit gesenktem Blick. Flaschen und Gläser sollen auf dem Tisch lieber stehen bleiben - damit etwas dazwischen ist. Ob sie sich vier Jahre nach ihrer Flucht aus dem Kellerverlies frei fühlt? "Manchmal. Ich versuche zumindest, mich frei zu fühlen und arbeite eigentlich noch immer dran."

Vegetarierin seit der Flucht

Die Vorurteile mancher Menschen und das Stigma als Opfer belasten sie. "Das ist so, wie wenn man jemandem, der am Boden liegt, noch einen Tritt gibt, damit er da bloß liegen bleibt. Man dann darf nur noch das Haus am Rande der Ortschaft in der Nähe des Friedhofs bewohnen." Für sie ist die Aufarbeitung eine Herausforderung, die sie auch mit der Veröffentlichung ihrer Biografie "3096 Tage" aufgenommen hat.

Mit kleinen Schritten und festem Willen erobert sich Natascha Kampusch ihr Leben zurück. Im Urlaub probiert sie beispielsweise gerade zu reiten: "Aber ich finde es eigentlich nicht gut, wenn man Pferde domestiziert und sie dazu zwingt etwas zu tun, was sie eigentlich nicht wollen. Das erinnert mich zu sehr an das, was mir passiert ist."

Der Bezug zu ihrer Gefangenschaft geht ihr leicht über die Lippen. Seit ihrer Flucht ist sie Vegetarierin und kann Tiere nicht hinter Gittern sehen. Allerdings macht sie bei ihren Fischen eine Ausnahme: "Da tröste ich mich mit dem Gedanken, dass sie nie die Freiheit gesehen haben, sondern im Aquarium zur Welt gekommen sind."

Probleme mit Gefühlen

Nach und nach entspannt sich die 22-Jährige und zeigt immer öfter ihr strahlendes Lächeln. Sie habe inzwischen schon enge Freundschaften geschlossen und gelernt, zu Menschen Vertrauen aufzubauen. Dabei habe sie gemerkt, dass sie nicht die Einzige ist, der so etwas schwer fällt.

Sie will nach ihrem Hauptschulabschluss weiter lernen, reisen und vieles Ausprobieren. Spazierengehen macht ihr Spaß, Fernsehen, Lesen und Schreiben. Den Führerschein hat sie nicht geschafft. Die Aufregung kam ihrem Verstand in die Quere - etwas, das sie fassungslos machte.

Mit Gefühlen hat die Frau, die in Jahren der Misshandlung zig Mauern um ihre Seele bauen musste, noch Probleme. "Diese Emotionalität muss ich noch lernen. Dieses auf Menschen zugehen, sich zu öffnen und auch mit Enttäuschungen fertig zu werden. All dies, was man normalerweise von klein auf im Zusammenleben mit Menschen lernt." Helfen kann ihr da nur die Praxis: "Man muss es auf sich zukommen lassen und kann es nicht beschleunigen."

Hohe Soziale Intelligenz - im Alltag ohne Nutzen

Ihrer Umwelt gegenüber ist sie hochsensibel, reagiert auf jede Regung, nimmt sogar den Gesichtsausdruck des Kindes auf dem Kitschbild an der Hotelwand wahr. In der Zeit allein mit dem unberechenbaren Psychopathen Priklopil war diese Gabe überlebenswichtig.

Bei den Untersuchungen nach der Flucht hätten die Mediziner ihr den höchstmöglichen Wert an sozialer Intelligenz bescheinigt, erzählt sie. Was jedoch im Alltag wenig nutzt: "Es ist so, als hätte ich ewig studiert - beispielsweise Chirurgie - und alles nur aus den Büchern gelernt. Dann stehe ich vor einem Patienten, der verblutet mir zwischen den Händen, weil ich eben nicht weiß, wie das im echten Leben aussieht."

Natascha Kampusch wirkt manchmal wie ein Wesen von einem anderen Stern, wenn sie mit großen blauen Augen von ihren Stolperfallen erzählt. Mit Konventionen habe sie noch Probleme, weil Priklopil sehr unmittelbar und wahrhaftig zu ihr gewesen sei: "Jetzt muss ich mich erst an die ganzen "Schein-Leute" gewöhnen." Angst mache ihr der Gedanke, dass der Täter genau diesen Schein - des netten, hilfsbereiten Nachbarn - nach außen aufrechterhalten konnte. "Und jetzt fällt mir auf, dass es sehr viele Menschen gibt, die so sind. Ich frage mich oft, was wohl in denen vorgeht, wie die denken. Ob sie auch so Ideen haben, wie jemanden einzusperren und zu quälen."

In zehn Jahren glücklicher

Die kluge Frau denkt sehr viel über sich und andere nach. Sie erklärt das mit ihrer Einsamkeit im Verlies, aber auch mit ihrem Naturell. "Ich bin mehr der denkende Mensch, das hat nichts mit Intellektualität zu tun, sondern es gibt eben Bauchmenschen und Kopfmenschen." Das Bauchgefühl will sie mit handwerklichen Ausbildungen und dem Reiten stärken. "Irgendwie hat mir die Arbeit mit den Pferden sehr gut getan, weil man da wirklich im Jetzt und konzentriert sein muss."

In der Zukunft will Kampusch endlich ohne Einschränkungen leben: "Ich möchte die Freiheit zu allem haben." Nur weil sie Opfer gewesen sei, dürfe sie doch - nur als Beispiel - zur Formel 1 gehen - ohne das es gleich heißt, das sei geschmacklos. In zehn Jahren will sie noch ausgeglichener sein, mit mehr Freunden und etlichen Reiseerfahrungen: "Dann bin ich auf jeden Fall schon viel, viel weiter und glücklicher, - und ich hab' wahrscheinlich einen anderen Haarschnitt."

Quelle: ntv.de, Miriam Bandar, dpa

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