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Aktion gegen das Vergessen Steine putzen - "damit das nie wieder passiert"

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Menschen sollen über die Schicksale der Menschen "stolpern" und so auf sie aufmerksam werden.

Menschen sollen über die Schicksale der Menschen "stolpern" und so auf sie aufmerksam werden.

(Foto: picture alliance / photothek)

Stolpersteine gedenken vor Wohnungen auf den Gehwegen in deutschen Städten der Opfer des Nationalsozialismus. Doch die Messingplatten mit den Namen der Opfer verschmutzen schnell. Um den 9. November herum reinigen deshalb Anwohner oder Ehrenamtliche die Steine: ein umstrittener Gedenkritus.

Es ist schon fast dunkel, als sich die Gruppe an diesem Mittwoch im November vor der Eck-Apotheke versammelt. An dem Treffpunkt vor der Apotheke am Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte trudeln immer mehr Teilnehmer ein. Gemeinsam mit anderen ehrenamtlichen Mitgliedern der Stadtteilgruppe Zentrum von den Grünen will Kurt Hildebrand an diesem Abend 277 Stolpersteine im Kiez rund um die Rosenthaler Straße reinigen und mit Blumen und Kerzen schmücken. Anlass ist der Jahrestag des Pogroms vom 9. November 1938 gegen die jüdische Bevölkerung.

Die auf dem Gehweg verlegten quadratischen Steine sollen überall in Europa an Menschen erinnern, die von den Nationalsozialisten verfolgt, vertrieben, deportiert oder ermordet wurden. Da die Steine aus Messing sind, bräuchten sie regelmäßig Pflege, wie die Leiterin der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin, Dr. Silvija Kavčič, im Gespräch mit ntv.de erklärt. "Stolpersteine erinnern an alle Verfolgten des Nationalsozialismus gleichermaßen", sagt Kavčič. Mit der Zeit würden die am Boden liegenden Steine immer dunkler: "Dann muss man sie putzen."

Initiiert vom Kreisverband der Grünen in Berlin-Mitte ist die Putzaktion ein Gedenkritual, um an den 9. November zu erinnern. Vorab hat Hildebrand eigens Routen erstellt, die in kleinen Grüppchen von drei bis vier Mitgliedern abgelaufen werden. Entlang von drei Routen quer durch Berlin-Mitte soll der 277 Lebensgeschichten der NS-Opfer gedacht werden.

An die Menschen hinter den Steinen erinnern

Die Stimmung ist trotz Kälte und Dunkelheit gut, eine Teilnehmerin singt, als ihr ein Bund Rosen gereicht wird: "Für mich soll's rote Rosen regnen". Kurz schaut auch Silke Gebel, Abgeordnete im Berliner Senat, vorbei. "Ich mache das jedes Jahr. Ich finde das wichtig, daran zu erinnern, wer hier die Nachbarn waren, die dann ermordet worden - auch damit so etwas nie wieder passiert", erklärt sie. Gebel hat bereits einen Tag zuvor an einer Stolperstein-Putzaktion teilgenommen: "Ich finde das Putzen wichtig, weil es die Steine wieder zum Strahlen bringt. Nicht nur an Tagen, die zur Erinnerung einladen, wie rund um den 9. November. Das kann man zwischendurch auch machen. Es geht darum, die Biografien zu lesen, sich zu erinnern. So wird deutlich, dass das nicht nur ein Stein ist, sondern dass hinter dem Stein der Mensch und seine Biografie sichtbar wird." Die Gruppe ist gut organisiert: Rosen, Kerzen sowie Poliertücher und Putzmittel werden unter den Ehrenamtlichen verteilt und los geht es.

Vor dem Haus in der Torstraße 148 sollen Grablicht und Rosen der Familie Löwenthal gedenken, die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurden.

Vor dem Haus in der Torstraße 148 sollen Grablicht und Rosen der Familie Löwenthal gedenken, die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurden.

(Foto: Rebecca Wegmann)

Kurt Hildebrand und Sönke Lorenz brechen gemeinsam auf. Beim ersten Stolperstein angekommen, ist dieser jedoch schon geputzt. Hildebrand legt eine Rose neben die drei Steine auf den gepflasterten Gehweg vor der Torstraße 126, dann ziehen sie weiter. Einige Häuser weiter ist die nächste Station auf Hildebrands Karte eingezeichnet. Es ist die Torstraße 148. Dort sind vier Stolpersteine verlegt, drei in einer Reihe nebeneinander, darunter ein einzelner.

An dieser Adresse, in den 1930er-Jahren noch die Elsässer Straße 84, lebte bis 1942 die Familie Löwenthal. Am 26. Oktober 1942 wurde Mutter Charlotte gemeinsam mit den Töchtern, der 10-jährigen Ingeborg und 16-jährigen Henriette, mit dem "22. Osttransport" nach Riga deportiert, wie auf der Webseite der Berliner Koordinationsstelle nachzulesen ist. Genau wie die anderen fast 800 Deportierten dieses Transports wurden sie unmittelbar nach Ankunft am 29. Oktober in den Wäldern bei Riga ermordet. Charlottes Lebensgefährte Leopold Jankel, dem der einzelne Stein unter der Dreier-Reihe gewidmet ist, wurde bereit 1940 in Buchenwald ermordet. Während die beiden Männer die drei Steine putzen, halten sie inne und lesen die Aufschrift. Zuerst trägt der eine etwas Wasser und Edelstahlreiniger auf die Steine auf und reibt die Flüssigkeit mit einem Schwamm ein. Langsam löst sich eine schwarze Schicht vom Messing ab. Danach poliert der andere mit einem Tuch darüber. Schließlich legen sie Rosen und Grablicht an die nun glänzenden Stolpersteine der Familie Löwenthal. Dann ziehen sie weiter.

Trotz der zuvor geplanten Route ist es manchmal gar nicht so einfach, die richtige Hausnummer zu finden - die unterschiedlichen Nummerierungen der Häuser in Berlin sorgen öfter für Verwirrung bei den Männern. Auch Nässe und das Herbstlaub erschweren die Suche. "Weil es dunkel ist, müssen wir ganz genau hingucken, da kann man schon mal etwas übersehen", sagt Lorenz, als sie vor einem Haus nach den Stolpersteinen suchen. Dabei helfen nur Geduld und mitgebrachte Lampen. Mal finden sie gleich acht Stolpersteine vor einer Schule, mal mehrere an einer Ecke zu einem Sportplatz und wieder andere vor den vielen Restaurants entlang der Torstraße, aus denen hier und da manche Gäste den Männern neugierig bei der Putzaktion zuschauen.

Jüdisches Leben gestern und heute "sichtbar machen"

Hildebrand und Lorenz putzen Stolpersteine vor einem Haus in Berlin-Mitte.

Hildebrand und Lorenz putzen Stolpersteine vor einem Haus in Berlin-Mitte.

(Foto: Rebecca Wegmann)

Im Vorbeigehen sagt ein Passant: "Morgen ist ja der Tag. Da haben Sie in dieser Straße noch etwas zu tun." Die Gegend um den heutigen Rosenthaler Platz beheimatete bis 1933 eine große jüdische Gemeinde. Deshalb sind in diesem Berliner Stadtteil besonders viele Stolpersteine zu finden. "Stolpersteine sind ein wichtiges Symbol, um jüdisches Leben in den Straßen sichtbar zu machen. Zumal dieser Kiez für jüdisches Leben gestern und heute eine große Bedeutung hat. Dafür möchte ich Sichtbarkeit schaffen", sagt Hildebrand, der seit ein paar Jahren bei den Grünen im Kreisverband tätig ist. Der Rentner möchte mit der Aktion ein Zeichen setzten. Ebenso ist es Hildebrand wichtig, Solidarität mit Israel sichtbar zu machen.

Anfang der 1990er-Jahre begann der deutsche Künstler Gunter Demnig das Projekt: Am 16. Dezember 1992 verlegte er anlässlich des 50. Jahrestages des Deportationsbefehls für Sinti und Roma den ersten Stein vor dem Kölner Rathaus. Ein Auszug des Befehls ist in den Stein eingraviert. Danach verbreitete sich das Stolperstein-Projekt zunächst auf viele deutsche und später dann auch auf einige Städte in ganz Europa. Im Frühsommer 2023 verlegte der Künstler in Berlin den zehntausendsten Stolperstein. Im Herbst dieses Jahres wurde er deshalb zum Berliner Ehrenbürger ernannt.

Den ersten Stolperstein in Berlin verlegte Demnig im Mai 1996 vor dem Haus in der Oranienstraße 158 zum Gedenken an die Geschwister Lina und Willy Friedemann, die am 15. August 1942 nach Riga deportiert und bei ihrer Ankunft am 18. August 1942 ermordet wurden. Mehr als 15 Jahre später organisierte die Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin im Rahmen des Themenjahres "Zerstörte Vielfalt" zum ersten Mal eine Putzaktion von Stolpersteinen in der deutschen Hauptstadt. "Das haben wir in den darauffolgenden Jahren immer mehr zu einer Tradition gemacht. Viele Leute haben das aufgegriffen", erzählt Kavčič. Möglicherweise ähnlich wie der Ritus der Fußwaschung im religiösen Kontext sei die Praxis des Putzens eine ehrende Gedenkform. Im Hinunterbeugen erkennt Kavčič eine Geste der Würdigung und Wertschätzung. Mittlerweile vermittelt die Berliner Koordinationsstelle sogar Putzpatenschaften.

Ein Versuch, die Aktion mit dem Berliner Gedenktag am 18. Oktober anlässlich der ersten Deportation 1941 zu verbinden, scheiterte: "Der 9. November ist einfach im öffentlichen Gedächtnis deutlich präsenter als der 18. Oktober", begründet dies Kavčič. Dieses Jahr veranstaltet die Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin an den beiden Wochenenden um den 9. November verschiedene Kiezspaziergänge, bei denen Stolpersteine gereinigt werden. Die Koordinatorin ist der Meinung, das Projekt passe besonders gut in die aktuelle Erinnerungskultur, weil das individualisierte Erinnern an Personen und deren Verfolgungsschicksale Menschen erreiche und ihre Empathie wecke. "Das Projekt ist sehr niedrigschwellig. Es können sich viele Leute ohne große Vorbereitung beteiligen und dadurch ihre Solidarität zu bekunden", sagt die Leiterin der Koordinierungsstelle.

Knobloch: Gedenken auf dem Boden ist "kein würdiges Gedenken"

Allerdings heißen nicht alle die Verlegung von Stolpersteinen gut: Seit Langem ist die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch, eine prominente Kritikerin. Als jüdisches Mädchen erlebte sie selbst die NS-Verfolgung, viele ihrer Verwandten wurden im Holocaust ermordet. 2014 sagte sie in der "Süddeutschen Zeitung": "Für mich ist der Gedanke unerträglich, dass diese Menschen und die Erinnerung an sie erneut mit Füßen getreten wird." Knobloch meint: Ein Gedenken auf dem Boden sei für sie "kein würdiges Gedenken".

Auch die Schweizer Künstlerin Dessa, mit bürgerlichem Namen Deborah Petroz-Abeles, begründet ihre Kritik an dieser Form des Gedenkens im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur 2016 mit ihrer jüdischen Identität: "Menschen laufen über die Steine, fahren mit dem Fahrrad darüber, Tiere verschmutzen sie. Das tut weh. Und ich denke nicht, dass die Macher des Projekts es bis zum Ende durchdacht haben", erklärt die Künstlerin.

10.000 Stolpersteine in der deutschen Hauptstadt

Aber an diesem Abend sind hier Menschen, die an die Wirkung der kleinen Messingsteine gegen das Vergessen glauben. "Wir haben 10.000 Stolpersteine in Berlin. Es passiert immer wieder mal, dass welche übermalt oder beschädigt werden", erklärt Kavčič. Der letzte größere Fall in Berlin fand 2017 in der Hufeneisensiedlung statt: Um den 9. November wurden damals über ein Dutzend Stolpersteine aus dem Kiez in Neukölln ausgegraben und gestohlen. Kavčič sagt, der Diebstahl habe eine große Spendenaktion und viel Solidarität ausgelöst. Alle entwendeten Stolpersteine, 120 Euro kostet ein Stein, konnten ersetzt und erneut verlegt werden und es blieb noch genügend Geld für viele weitere Stolpersteine.

Aber in der Regel gingen Stolpersteine eher im Zuge von Baumaßnahmen verloren, wie Kavčic erzählt. Die Koordinierungsstelle wird immer wieder von aufmerksamen Nachbarn beziehungsweise Berlinern auf verloren gegangene Stolpersteine hingewiesen. "Leider aber nicht immer rechtzeitig. So passiert es leider gelegentlich, dass Angehörige nach Berlin kommen und entdecken müssen, dass die Stolpersteine nicht mehr vorhanden sind", wie Kavčič erzählt.

Den nächsten Stolperstein auf ihrer Route müssen Hildebrand und Lorenz nicht lange suchen. Er liegt direkt an einer Baustelle. An der Engstelle treten einige Passanten den Männern beinahe auf Finger. Nach über einer Stunde Spaziergang durch die Kälte ist für die beiden immer noch nicht Schluss. Während sie durch den belebten Berliner Kiez laufen, sprechen sie über einen in Vergessenheit geratenen Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung im Scheunenviertel am 5. November 1923, den dieses Jahr zum 100. Jahrestag viele Medien wieder in Erinnerung riefen. Immer mal wieder bleiben Menschen kurz stehen, stellen Fragen oder unterhalten sich mit den Männern. Zwischendurch kommt es sogar zum Austausch von Putztipps: Eine Straßenecke zuvor fragt eine Anwohnerin, die gerade die Haustür aufschließt, wissbegierig: "Und, was ist Ihr Zaubermittel?" Sie versuche es immer mit Scheuermilch.

Poliert und geschmückt: die vier Stolpersteine vor dem Haus in der Ackerstraße für Familie Lewin.

Poliert und geschmückt: die vier Stolpersteine vor dem Haus in der Ackerstraße für Familie Lewin.

(Foto: Rebecca Wegmann)

Vor einem Haus in der Ackerstraße sind vier Stolpersteine für Siegfried, Adelheid, Helga und Edith Lewin verlegt. Während in dreien "Ermordet in Auschwitz" eingraviert ist, stehen auf Edith Lewins Stein an derselben Stelle drei Fragezeichen. Bis heute ist ihr Verbleib unbekannt.

Am Ende des Abends treffen sich die Ehrenamtlichen nach den Stunden in der Kälte in einem warmen Restaurant an der Oranienburger Straße. Während die Gruppe dort bei Hummus und Bier ihre nächste Aktion plant, scheinen an diesem Abend Kerzen auf den 277 polierten Stolpersteinen im Kiez um die Rosenthaler Straße.

Quelle: ntv.de

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