Panorama

Das Leben mit der Radioaktivität Wenn der Geigerzähler rattert

Auf den Reisfeldern finden sich nur noch Vogelscheuchen.

Auf den Reisfeldern finden sich nur noch Vogelscheuchen.

(Foto: REUTERS)

Aus der Atomruine Fukushima tritt auch sechs Monate nach Beginn der Katastrophe weiter Radioaktivität aus. Die Bewohner der Region sind ständig mit Messwerten konfrontiert, deren Bedeutung sie kaum abschätzen können. Der Regierung vertraut hier niemand mehr.

Seiji Sugeno nimmt den Geigerzähler in die Hand und schaut auf den Bildschirm. "Wir haben zur Zeit draußen 0,86 Mikrosievert pro Stunde, seit zwei Wochen endlich unter einem Mikrosievert". Der Biobauer im japanischen Ort Nihonmatsu, rund 50 Kilometer vom havarierten Kernkraftwerk Fukushima Daiichi entfernt, lächelt angestrengt. Er weiß, dass diese radioaktiven Werte alles andere als ein Grund zum Aufatmen sind. "Wir sind verunsichert, weil wir nicht genau wissen, wie hoch die Werte bei uns im Boden sind", sagt der 52-jährige Japaner. Der von der Regierung festgelegte Höchstwert über dem Boden liegt bei 3,8 Mikrosievert pro Stunde, doch jeder weiß, dass das hoch angesetzt ist. Schon ein Mikrosievert gilt als ziemlich hoch. "Es glaubt hier heute keiner mehr, dass die Höchstwerte der Regierung wirklich in Ordnung sind", erklärt der Landwirt.

Auf Tepco ist kaum ein Japaner gut zu sprechen.

Auf Tepco ist kaum ein Japaner gut zu sprechen.

(Foto: REUTERS)

Heute, sechs Monate nach Beginn der weltweit schlimmsten Atomkatastrophe seit Tschernobyl, denken viele Menschen in der Provinz Fukushima so wie Sugeno. Tag für Tag müssen sie mit der beunruhigenden Tatsache leben, dass noch immer Radioaktivität aus dem Kernkraftwerk austritt, dass noch immer radioaktive Partikel in den angrenzenden Pazifik sickern. Nachdem die Regierung anfangs lange Zeit behauptet hatte, es habe keine Kernschmelze gegeben, musste sie sich später korrigieren. Aber wo ist der Kernbrennstoff in den betroffenen Reaktoren 1 bis 3 seither geblieben? "Wir wissen es nicht", räumt Yoshinori Moriyama, Vize-Generaldirektor bei der Atomsicherheitsbehörde ein. Kritiker werfen der Regierung und dem Atombetreiber Tepco vor, das Fiasko weiterhin herunterzuspielen.

"Es ist möglich, dass sich die geschmolzenen Brennstäbe durch den Boden der Reaktorschutzhülle und das Betonfundament durchgefressen haben und in den Untergrund gelangten", erklärt Hiroaki Koide, Professor am Reaktorforschungsinstitut der Universität Kyoto. Dennoch betont Tepco immer wieder, bis Januar die Anlage unter Kontrolle gebracht zu haben. Doch was, wenn Experten wie Koide recht behalten?

Das Vertrauen ist weg

Bauer Sugeno blickt mit ernster Miene über das Gemüse in seinem Geschäft. Er leitet eine Nichtregierungsorganisation von Bauern, die Biogemüse anpflanzen. "Die Provinzverwaltung misst für jede Gemüseart nur an wenigen Standorten. Diese Werte gelten dann für die ganze Provinz. Damit wissen wir aber immer noch nicht, welche Strahlenwerte das Gemüse auf unseren eigenen Felder hat", schildert Sugeno das Dilemma. In der ganzen Provinz Fukushima gebe es nur vier teure Spezialgeräte für Lebensmittel, mit denen man nicht nur Cäsium, sondern auch andere Substanzen messen könne. "Warum hat man nicht schon früher mehr Strahlenmessgeräte aus aller Welt angeschafft?"

Ein Bauer vor seiner eigenen Messstation.

Ein Bauer vor seiner eigenen Messstation.

(Foto: dpa)

Sugeno und seine Kollegen hatten Glück: Eine Firma in Kyoto lieh ihnen ein teures Messgerät aus deutscher Produktion, das unvergleichlich besser ist als der kleine simple Geigerzähler, den Sugenos Tochter über ihre Blogseite anfangs organisieren konnte. Neben ihrem Gemüseladen haben sie sich in Heimarbeit mit Brettern und Isoliermaterial nun ein kleines Messlabor eingerichtet. Stolz zeigt Sugenos Kollege Makoto Ebisawa das deutsche Gerät. "Wir brauchen viel mehr von solchen Geräten. Wieso können unsere eigenen japanischen Unternehmen nicht auch so etwas bauen", beklagt der Biobauer. Auch die Bürgerinitiative "Citizen's Radioactivity Measuring Station" nimmt die Messungen in die eigene Hand.

Trotz der Messungen herrscht Unsicherheit. Offiziell gilt für Gemüse ein Grenzwert für Cäsium von 500 Bequerel pro Kilo. Er habe gehört, dass in Tschernobyl niedrigere Grenzwerte angesetzt worden waren. "Was ist denn nun wirklich sicher?", beklagt Ebisawa. Dennoch essen sie das eigene Gemüse. Immerhin seien die Werte derzeit auf ein Zehntel des Grenzwerts gesunken. "Wir wissen zwar, dass wir jeden Tag weiter Cäsium einnehmen, aber wir essen auch Fasern und scheiden einiges aus. Vielleicht sind wir Menschen ja stark. Es ist besser so zu denken, als nur Stress und Angst zu haben", macht sich Sugeno Mut.

Sie bleiben trotzdem

Daran, aus Fukushima wegzuziehen, habe er nie gedacht. "Es ist für uns Bauern nicht so leicht, zu flüchten, wenn wir daran denken, unsere Felder zurückzulassen. Wie sollen wir dann unseren Lebensunterhalt bestreiten?", sagt Sugeno. Bauern wie er lieben ihr Land, das schon ihre Vorfahren ernährte. Für Familien mit Kindern sei es viel schlimmer, sagt Sugeno. Mehr als 51 000 der ursprünglich rund zwei Millionen Bewohner Fukushimas haben ihre Heimat bereits verlassen. "Einige Kinder bekommen öfter als sonst Durchfall oder Nasenbluten", erzählt Chieko Shiina von der Organistion "Fukushima Netzwerk zur Rettung von Kindern vor Radioaktivität". Die Regierung brauchte fast fünf Monate, um eine Untersuchung unter 1000 Kindern, die einst nahe der Atomruine lebten, zu veröffentlichen, wonach 45 Prozent von ihnen Spuren von Iod in ihren Schilddrüsen aufwiesen.

Die Regierung behauptete dabei, die Strahlendosis stelle keine gesundheitlichen Risiken für die Kinder dar. Die Eltern dagegen haben Angst, dass ihre Kinder später einem größeren Krebsrisiko ausgesetzt sind. "Die Bürger trauen der Regierung nicht mehr", sagt Shiinas Kollege Seiichi Nakate. Die Regierung hatte die Höchstgrenze für Schulen zwischenzeitlich von einem auf 3,8 Mikrosievert pro Stunde oder 20 Millisievert pro Jahr angehoben, was der international empfohlenen Grenze für Atomarbeiter entspricht. Erst nach Elternprotesten wurde dies später wieder zurückgenommen. Am ratsamsten sei, wenn alle Kinder aus Fukushima herausgebracht würden, sagt Nakate. "Irgendwann wird die Regierung Kinder evakuieren müssen", meint er. "Aber dafür wird es zu spät sein, wenn die Regierung solange damit wartet, bis Kinder anfangen, zu kollabieren".

Quelle: ntv.de, Lars Nicolaysen, dpa

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