Panorama

Sündenbock im Missbrauchsskandal "68er" sollen den Kopf hinhalten

Ein Foto der legendären Berliner "Kommune 1" erinnert an die 68er.

Ein Foto der legendären Berliner "Kommune 1" erinnert an die 68er.

(Foto: picture alliance / dpa)

Man könne die sexuelle Revolution bei der Debatte um die Missbrauchsfälle nicht außen vor lassen, meint Bischof Mixa - treu nach dem Motto: "Die 68er sind an allem schuld."

"Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment." Das war einer der bekanntesten Sprüche der "68er" Studentenbewegung und Jugendrevolte vor über 40 Jahren. Neben den politischen Zielen hatte sich die rebellische Jugend damals vor allem auch eine "sexuelle Revolution" auf die Fahnen geschrieben. Diese sollte der in Deutschland herrschenden "verklemmten Sexualmoral" Paroli bieten. Sexualität sollte Thema des "offenen gesellschaftlichen Gesprächs" werden. Oder wie es Dieter Kunzelmann, ein Mitglied der legendären Berliner "Kommune 1", formulierte: "Was interessiert mich der Vietnamkrieg, wenn ich Orgasmusschwierigkeiten habe."

Schon zum 40. Jahrestag der "68er" Revolte vor zwei Jahren war der Generalverdacht laut geworden, diese "freizügige Revolution" mit ihrem "laissez faire" (treiben lassen) gegenüber Kindern und Jugendlichen habe in den Schulen die späteren zum Teil verheerenden Pisa-Lernergebnisse verursacht. Jetzt geraten die "68er" auch bei den aktuellen Debatten um die Missbrauchsfälle an katholischen Einrichtungen und nicht konfessionellen Schulen ins Visier - sicher auch nach dem in manchen Kreisen verbreiteten Motto, "die 68er sind an allem schuld".

"Man muss mit Selbstkritik anfangen"

Bischof Walter Mixa bezeichnet die sexuelle Revolution als "nicht unschuldig".

Bischof Walter Mixa bezeichnet die sexuelle Revolution als "nicht unschuldig".

(Foto: picture alliance / dpa)

In diese Kerbe schlug jetzt auch der Augsburger Bischof Walter Mixa: "Die sogenannte sexuelle Revolution, in deren Verlauf von besonders progressiven Moralkritikern auch die Legalisierung von sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gefordert wurde, ist daran sicher nicht unschuldig." Für Pater Klaus Mertes, Rektor des Berliner Jesuitengymnasiums Canisius-Kolleg, der die "Offenbarungslawine" Anfang des Jahres ins Rollen gebracht hat, zielt das am Kern vorbei: "Es bringt nichts, mit dem Finger auf andere zu zeigen nach dem Motto, man habe es schon immer besser gewusst, man muss mit Selbstkritik anfangen - in der Familie, in der Katholischen Kirche oder in der libertinären Reformpädagogik."

Natürlich gab es im Zuge der "68er-Sex-Revolution" auch Paukenschläge, die manchen zu laut waren. So 1970 das Buch "Sexfront" des Sexualwissenschaftlers Günter Amendt. Die Aufklärungsschrift für Kinder und Jugendliche war manchen Gerichten zu freizügig, aber auch ein Bestseller. Für solche Freizügigkeit gab es aber auch wissenschaftliche Unterstützung - zum Beispiel vom marxistischen Psychoanalytiker Wilhelm Reich mit seiner Orgasmustheorie. Danach ist sexuelle Erfüllung ein Kriterium für psychische Gesundheit, und eine unterdrückte Sexualität hat einen "autoritären Zwangscharakter" zur Folge.

Reformpädagogen hoch im Kurs

Auch Reformpädagogen wie Alexander Neill mit seiner "Demokratischen Schule Summerhill" in Großbritannien, der ebenfalls davor warnte, Kinder in ihrem Sexualtrieb zu sehr einzuschränken (er attackierte Klosterschulen, die das Onanieren verboten), stand bei den "68ern" hoch im Kurs. In der Reformpädagogik kam später sogar das missverständliche Wort vom "pädagogischen Eros" auf, auf den sich dieser Tage auch der angesehene Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg ("Der Rote Ritter") in seinem Kommentar zum aktuellen Skandal berief.

Während der 68er wird Sexualität Thema des "offenen gesellschaftlichen Gesprächs".

Während der 68er wird Sexualität Thema des "offenen gesellschaftlichen Gesprächs".

(Foto: picture-alliance / dpa)

"Körperliche Nähe" wurde in der modernen Erziehungswissenschaft natürlich nie mit "sexuellem Übergriff" gleichgesetzt. Dass das in der Schulwirklichkeit auch anders sein könnte, hat auch den renommierten Reformpädagogen Bernhard Bueb ("Lob der Disziplin"), früher auch Lehrer an der Odenwaldschule und Leiter im Internat Salem, entsetzt. So sagte er jedenfalls jetzt über die bekannt gewordenen sexuellen Übergriffe an der Schule ("Die Zeit"), sie hätten "die die Vorstellungskraft aller in der Erziehung Tätigen" gesprengt. Das habe "der Reformpädagogik unermesslichen Schaden zugefügt". Jetzt werde man gleich "die ganze Bewegung verdammen", sogar die Nähe von Erwachsenen zu Kindern werde nun unter Generalverdacht gestellt, fürchtet Bueb.

Feste Hand, aber nicht die der 50er Jahre

"Die 68er haben sich geirrt" - jedenfalls in einem wichtigen Punkt, dem Verhältnis zu Kindern, denen man angeblich nichts verbieten und keine Grenzen setzen darf - schrieb der Kolumnist Harald Martenstein (Jahrgang 1953) im Berliner "Tagesspiegel": "Aber Kinder sind keine Erwachsenen. Sie brauchen jemanden, der sie schützt, manchmal auch vor sich selber, sie brauchen Wegweiser und eine Hand, an der sie sich festhalten dürfen."

Diese Hand sollte und soll aber eben nicht mehr jene "feste Hand" der 50er Jahre sein, in der Gewalt gegen Kinder "gesellschaftsfähig" und allgemein akzeptiert war, wie sich der 69-jährige Schriftsteller und "68er-Biograf" Uwe Timm ("Heißer Sommer") in einem Rundfunkgespräch erinnerte. Wenn ein Passant ein Kind, das mit seinem Fahrrad auf dem Gehweg fuhr, anschnauzte und ins Gesicht geschlagen habe, hätten andere Passanten sogar noch "Richtig so!" gerufen, erzählte er.

Für mehr Transparenz

Das war eben auch die Zeit, in der Sexualität in den meisten Familien ein Tabuthema war. Sexuellen Missbrauch hat es schon damals, also vor der "68er"-Jugendrevolte gegeben - auch und vor allem in Familien. Und die Fälle sind auch über 40 Jahre danach konstant bis steigend - und finden immer noch vielfach innerhalb der Familien statt, wie aktuelle Kriminalstatistiken zeigen. So gesehen haben die "68er" vielleicht übertrieben oder gar Fehler gemacht, aber den Schleier hinter den Fenstern "isolierter Kleinfamilien" wollten sie aus gutem Grund ein Stück wegreißen und auch Jugendeinrichtungen transparenter machen.

Quelle: ntv.de, Wilfried Mommert, dpa

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