"Zustand schon vor Beben katastrophal" Haiti steht vor völligem Neuanfang
30.03.2010, 13:58 UhrIn Haiti geht es nach dem Erdbeben nicht einfach um den Wiederaufbau, sondern um die völlige Neuorganisation des Landes. "Wir müssen die Gesellschaft von Grund auf renovieren und weit über das hinaus entwickeln, was vor dem Beben bestanden hat", sagt Michael Kühn im Interview mit n-tv.de. Der Koordinator der Deutschen Welthungerhilfe organisiert unter anderem ein "Cash for work"-Programm in Haiti. "Das wichtigste ist, die Leute wieder in einen Wirtschaftskreislauf zu reintegrieren, um ihnen die Möglichkeit zu gegen, für sich selbst zu sorgen."

"Es gibt eine positive Stimmung im Land": Trotz der katastrophalen Situation sieht Kühn Zeichen der Hoffnung.
(Foto: REUTERS)
n-tv.de: Bei dem Erdbeben am 12. Januar sind mehr als 220.000 Menschen gestorben, über 1 Million sind noch immer obdachlos. Befindet Haiti nach wie vor im völligen Ausnahmezustand oder gibt es Anzeichen zur Rückkehr von Normalität?
Michael Kühn: Für uns als Beobachter befindet sich das Land im Ausnahmezustand, und auch für die Bevölkerung ist es eine katastrophale Ausnahmesituation, die grauenvoll ist und die Menschen belastet. Es ist nach wie vor eine logistisch und politisch komplizierte Situation. Es werden eigentlich Entscheidungen einer starken Regierung erwartet, wie das Land wieder aufgebaut und die Gesellschaft funktionsfähig gemacht werden kann. Das ist im Moment aber nicht zu beobachten, zumal die Regierung selbst genug Probleme hat, sich zu organisieren. Die internationale Gemeinschaft wird hier auf jeden Fall eine große Rolle für die nächsten Jahre spielen.
Allerdings ging es Haiti auch vor dem Beben schon schlecht, sodass es durchaus Menschen gibt, die in den Zeltlagern durch die regelmäßige Versorgung unter Umständen ein besseres Auskommen haben als vorher. Das mag ein bisschen zynisch klingen, entspricht aber durchaus der Realität.
Woran liegt das?
Mindestens 70 Prozent der Bevölkerung haben in extremer oder absoluter Armut gelebt. Viele Menschen sind aus ihren Slums geflüchtet, weil sie gemerkt haben, dass sie in den neu geschaffenen Unterkünften eine bessere Versorgung erhalten. Da gibt es Strom, da gibt es Wasser, da gibt es Organisationen, die sich um die Ernährung kümmern. Für uns als Hilfsorganisation ist es natürlich schwer zu trennen, wer nun direkt vom Erdbeben betroffen ist, und wer indirekt betroffen ist. Aber diese Situation beschreibt das Grundproblem sehr gut: Nämlich die extreme Armut und dass die Menschen nicht in der Lage sind, sich selbständig zu helfen, weil sie kein Einkommen haben. Das betrifft etwa 60 bis 70 Prozent der Gesellschaft.
Gerade zu Anfang klagten Hilfsorganisationen über die schlechte Koordinierung der Arbeit. Hat sich die Abstimmung und Planung der Hilfe verbessert?
Die Koordination ist besser geworden. Wenn ich mir die vergangenen zehn Jahre anschaue, würde ich sogar sagen, dass sie nach einer Katastrophe solchen Ausmaßes noch nie so gut funktioniert hat. Von dem Beben waren schließlich alle Organisationen betroffen, die Regierung genauso wie die UN und alle Nichtregierungsorganisationen. Dann sind viele neue Akteure in Haiti auf den Plan getreten, die sich in dem Land nicht auskennen. Die mussten erst einmal eingebunden werden, damit das Gesamtpaket an Hilfen Sinn macht.
Man darf auch nicht vergessen, wie groß die Herausforderung ist, wir haben eine echte Herkulesaufgabe vor uns. Wir bauen nicht einfach wieder auf, sondern wir tragen dazu bei, eine Gesellschaft ganz neu zu gestalten. Auch vor dem Erdbeben bestanden in Haiti nur marginale staatliche Strukturen, wie man beispielsweise am Schulsystem sehen kann. 90 Prozent der Schulen waren privat, 10 Prozent staatlich. Wenn wir nun Schulen wieder aufbauen, stellt sich die Frage nach den Rahmenbedingungen für das gesamte Schulwesen im Land: Gab es überhaupt eine Schulpolitik oder einen staatlichen Erziehungsauftrag und wie soll der umgesetzt werden? Wir müssen das Schulwesen von Grund auf neu entwickeln.
Das heißt es geht darum, einen Staat vollständig neu aufzubauen?
Im Grunde ja. Wir können uns nicht auf bestehende Strukturen stützen.
Wie ist die Stimmung in der Gesellschaft: Wie würden Sie die Atmosphäre auf den Straßen beschreiben?
Abgesehen von einigen kriminellen Übergriffen, insbesondere im verwüsteten Innenstadtbereich von Port-au-Prince, bin ich überrascht, wie relativ ruhig und entspannt die Atmosphäre ist. Von Plünderungen habe ich länger nichts mehr gehört, zu ausufernden Gewalttaten ist es überhaupt nicht gekommen. Ich würde sogar wagen zu sagen, dass es eine positive Stimmung im Land gibt: Die Leuten helfen sich untereinander, sie rücken enger zusammen, sie teilen sich das Essen – es hat eine kleine Solidarisierung in der Gesellschaft stattgefunden. Das motiviert mich als Helfer natürlich auch.

"Cash for work": Die Welthungerhilfe möchte die Menschen in die Lage versetzen, sich selbst zu versorgen.
(Foto: Aberle/ Welthungerhilfe)
Hat sich die medizinische Versorgung in Haiti verbessert?
Durch die Arbeit der vielen internationalen Organisationen ist die medizinische Versorgung besser geworden. Vor dem Beben konnte man sich nur gegen teures Geld behandeln lassen – wer keins hatte, war seiner Krankheit ausgeliefert. Nun gibt es zumindest die Möglichkeit für die Menschen in den vom Beben betroffenen Gebieten, einen Arzt aufzusuchen oder in ein Krankenhaus zu gehen. Das darf man nicht mit einem umfassenden Gesundheitssystem verwechseln, aber zumindest gibt es eine medizinische Grundversorgung, die es vorher in dem Umfang nicht gegeben hat. Wobei der Bedarf durch die große Zahl der Verletzten auch extrem hoch ist.
Worin besteht der Kern Ihrer Arbeit: Was tut die Welthungerhilfe in Haiti?
Wir verfolgen zwei Prinzipien: Zum einen wollen wir die Menschen so schnell wie möglich in Lohn und Brot bringen, damit sie durch die Einkünfte in der Lage sind, ihr Leben wieder aufbauen zu können. Zum anderen versuchen wir, statt Lebensmittel international einzukaufen, Strukturen hier vor Ort zu finden, wo lokal produziert wird, um diese dann zu verteilen. Wir haben auch Saatgut für die nächste Ernte verteilt. Das wichtigste ist, die Leute wieder in einen – wenn auch kleinen – Wirtschaftskreislauf zu reintegrieren, um ihnen die Möglichkeit zu gegen, für sich selbst zu sorgen.
Dieses Ziel verfolgen Sie auch mit ihrem "Cash for work"-Programm.
Bei "Cash for work" oder auch "Food for work" geht es darum, die Infrastruktur mit einem großen Arbeitskräftepotenzial auf Vordermann zu bringen. Beispielsweise durch die Säuberung von öffentlichen Plätzen und Gebäuden, damit der Aufbau dort gewährleistet werden kann; oder durch die Instandsetzung von Straßen. Die Menschen werden dabei mit festen Sätzen entlohnt, etwa 4 bis 5 Euro pro Tag. Zudem stellen wir noch Leute ein, die für die Arbeitsgruppen kochen und stellen so ihre Versorgung sicher.
Was ist die größte Herausforderung beim Wiederaufbau des Landes?
Dass wir das Land völlig neu aufbauen müssen, und nicht einfach wiederaufbauen. Normalerweise ist es nach einer Katastrophe ja so, dass bestimmte Dinge in einer Gesellschaft nicht mehr funktionieren, die durch die Nothilfe dann überbrückt werden, bis wieder der Normalzustand erreicht ist. Aber der Normalzustand in Haiti war auch vor dem Erdbeben schon katastrophal. Wir müssen deshalb die Gesellschaft von Grund auf renovieren und weit über das hinaus entwickeln, was vor dem Beben bestanden hat. Hinzu kommt, dass über eine Million Menschen ihre Häuser verloren haben und das Land von Importen abhängig ist, weil nur auf 30 Prozent der Fläche Haitis landwirtschaftliche Produktion betrieben werden kann. Hier zeigen sich die Grenzen für die Versorgung der eigenen Bevölkerung – das Land wird immer von Importen abhängig bleiben. Deshalb ist es auch die Frage, ob die internationale Gemeinschaft in der Lage ist, ökonomische Rahmenbedingungen zu schaffen, die Haiti zugute kommen und es nicht immer weiter in die Rolle eines Schuldners treiben und ausbeuten.
Morgen beginnt die internationale Geberkonferenz in New York: Worauf sollten die Teilnehmerstaaten dabei besonders Wert legen?
Dass die haitianische Regierung, so schwach sie sich auch präsentiert, immer eingebunden ist. Und dass man alles daran setzt, die Regierung in ihrer Verantwortlichkeit zu stärken. Darüber hinaus ist es auch wichtig, die Zivilgesellschaft in den Aufbau einzubinden und zu beteiligen. Man sollte darauf hören, was die Haitianer wirklich wollen. Die internationale Gemeinschaft sollte sich als Unterstützung dieser Entwicklung verstehen und nicht als Hauptakteur, der den Prozess von außen kontrolliert. Ein guter Vorschlag ist es, eine Aufbaukommission zu gründen, die unabhängig von der internationalen Gemeinschaft und auch von der aktuellen haitianischen Regierung langfristig ein Wiederaufbauprogramm begleiten und steuern kann.
Im Juni beginnt in der Karibik die Hurrikansaison. Inwieweit ist Haiti darauf vorbereitet?
Wenn es zu einem Hurrikan käme, wäre das verheerend. Die Menschen leben in Zelten und unter Plastikplanen, die alles andere als Regen- und Windfest sind. Ich hoffe, dass wir an dieser Katastrophe vorbeikommen. Aber Haiti ist ja anscheinend nicht gerade mit Glück gesegnet, von daher kann man nicht ausschließen, dass die Stürme in der zweiten Jahreshälfte das Land treffen. Aber wir sind Berufsoptimisten, von daher hoffen wir, dass die Hurrikans in diesem Jahr an uns vorbeiziehen werden. Wir tun als Organisation, was wir können, aber die Regenzeit wird auf jeden Fall Probleme bringen. Dann müssen wir auch mit der Zunahme von Krankheiten rechnen.
Mit Michael Kühn sprach Till Schwarze
Quelle: ntv.de