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50 Jahre Putsch gegen Allende Als Chile in die Diktatur stürzte - mithilfe der USA

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Der Präsidentenpalast am Tag des Staatsstreichs.

Der Präsidentenpalast am Tag des Staatsstreichs.

(Foto: AP)

Ein halbes Jahrhundert ist es her, dass General Pinochet in Chile gegen die sozialistische Regierung putscht. Politische Flüchtlinge finden auch in der DDR und der Bundesrepublik Zuflucht. Der Staatsstreich und seine Folgen prägen das Land bis heute.

Es ist der 11. September 1973. General Augusto Pinochet und das chilenische Militär greifen mit aller Gewalt nach der Macht. Bomben fallen auf den Präsidentenpalast im Herzen von Chiles Hauptstadt Santiago. Die Soldaten stürmen das Gebäude. In einem Raum verbunkert sich Präsident Salvador Allende. Sich zu ergeben, hatte der Sozialist zuvor abgelehnt. Er weiß: Es gibt keinen Ausweg für ihn. Per Radioansprache verabschiedet Allende sich von den Chilenen. Dann setzt er sich eine Kalaschnikow in den Mund und drückt ab.

Innerhalb weniger Tage bringt das Militär die Institutionen unter seine Kontrolle. Der Staatsstreich gegen die erste gewählte linke Regierung in der Geschichte des Globalen Südens ist gelungen. In weiten Teilen der Welt, insbesondere in Europa, solidarisieren sich linke Bewegungen mit der gestürzten Regierung. In der Folge erhalten in der DDR etwa 2000 Chilenen politisches Asyl, in der Bundesrepublik sind es 4000.

Die Privatwirtschaft ist mit dem gewaltsamen Regierungswechsel nicht unzufrieden. Am 17. September informiert etwa die Niederlassung des deutschen Chemiekonzerns Hoechst in Santiago die Zentrale in Frankfurt am Main. "Der so lang (sic!) erwartete Eingriff der Militärs hat endlich stattgefunden", beginnt das Schreiben. "Eine Aktion (..) bis ins letzte Detail vorbereitet und glänzend ausgeführt. (..) Chile wird in Zukunft ein für Hoechster Produkte zunehmend interessanter Markt sein." Das Land sei nun "gegen den marxistischen Virus geimpft".

Pinochet etabliert eine Militärdiktatur. Das Regime schließt das Parlament, zensiert die Presse, demontiert die Gewerkschaften. Die Unterdrückung wird bis 1990 andauern. Das Regime ermordet in diesen Jahren mindestens 3200 Menschen, weitere 1162 gelten noch immer als verschwunden, darunter auch Kinder. Im ganzen Land sperrt es in versteckten Zentren die Kritiker des Militärs ein und foltert sie. Insgesamt 40.000 Menschen sind offiziell als Opfer anerkannt. Eines der Folterzentren befindet sich in der deutschen Sekte Colonia Dignidad, die für das Regime auch Waffen importiert und herstellt.

In aller neoliberaler Härte

Der General und seine Mitstreiter trimmen das Land nach der Machtübernahme in aller Härte gesellschaftlich auf konservativ und verwandeln es mit neoliberalen Wirtschaftswissenschaftlern, den "Chicago Boys", die bei Milton Friedman in den USA studiert hatten, in ein autoritär geführtes wirtschaftliches Versuchslabor. Der Staat fungiert darin als reiner Regelhüter. Das Rentensystem, die Gesundheitsversorgung sowie Bildung, die Straßen, das Wasser, nahezu alles werden privatisiert. Die gesellschaftlichen Folgen sind allgegenwärtig und bestimmen auch heute noch große Teile der nationalen Politik.

Allende hatte das Gegenteil erreichen wollen. Er erwirkte nach seiner Wahl Lohnerhöhungen im Schnitt von 50 Prozent, setzte eine Landreform durch und verstaatlichte - mit einstimmiger Unterstützung der Opposition im Parlament - die wirtschaftlich so wichtigen Kupferminen im Land. Bis dahin hatten sie US-amerikanischen Konzernen gehört. Das Kupfer für die US-Wirtschaft kam neben den eigenen Bergwerken insbesondere aus Chile.

General Augusto Pinochet im Jahr 1989. Ein Jahr später tritt er ab.

General Augusto Pinochet im Jahr 1989. Ein Jahr später tritt er ab.

Die Anstrengungen des US-Geheimdienstes, die Wahl zu Allendes Ungunsten zu beeinflussen, waren gescheitert. Nach Allendes Wahlsieg habe zunächst eine "Ende einer Ära"-, eine "Morgen sterben wir"- Stimmung in Santiago geherrscht, wie es ein Berater von Allendes Amtsvorgänger in der "New York Times" im Jahr 1974 beschrieb. Mittelschicht und Wohlhabende hätten mit dem Geld nur so um sich geschmissen.

Allendes Unterstützer hingegen waren euphorisiert vom Wahlsieg. Es herrschte nahezu Vollbeschäftigung, ein Boom löste vorübergehend die Rezession ab. Doch die entfesselte Nachfrage treibt die Importrate und ab 1972 die Inflation nach oben, weil die eigene Produktion nicht hinterher kommt. Die Folge ist auch eine Lebensmittelversorgungskrise, die der Bevölkerung das Leben schwer macht. Der kubanische Revolutionsführer Fidel Castro, der 1971 vier Wochen durch Chile reist, wird später sagen: "Marxismus ist eine Revolution der Produktion. Allende war eine des Konsums."

Ab Herbst 1972 kommt es zu Streiks im ganzen Land. Allende integriert das Militär in die Regierung, was die Lage vorübergehend beruhigt. Doch der Frieden ist nicht von Dauer, und auch eine für die Linken erfolgreiche Kongresswahl kann ihn am Ende nicht retten. Im August 1973 entzieht das chilenische Parlament Allende das Vertrauen. Damit rechtfertigt Chiles Militär später seinen Putsch. Den USA, die die Opposition finanziell unterstützt und eine erfolgreiche sozialistische Regierung unbedingt verhindern will, kommt dies mehr als gelegen.

Inmitten des Kalten Krieges will Washington keinen weiteren Verbündeten Kubas in der Region. US-Präsident Richard Nixon und sein nationaler Sicherheitsberater Henry Kissinger befürchten, Chile könne ein leuchtendes Vorbild für andere Staaten werden. Allende hatte als Präsident neben Kuba auch die DDR diplomatisch anerkennen lassen - vor der Bundesrepublik. Dort solidarisiert sich die sozialistische Regierung und Bevölkerung mit Chile. Es werden einige DEFA-Filme gedreht - etwa über den Sänger Victor Jara, Mitglied der Kommunistischen Partei, der in den ersten Tagen des Putsches ermordet wurde.

Angst vor einem marxistischen Italien

Salvador Allende

Salvador Allende

Inzwischen ist zum Fall Chile eine Vielzahl von Dokumenten öffentlich zugänglich; wie es kam und was danach geschah, Gesprächsprotokolle, Geheimdienstinformationen, Anweisungen Nixons und Kissingers. Der wurde kurz nach dem Putsch in Chile als Außenminister vereidigt. Ohnehin hatte Nixon vorher eher auf Kissinger als auf den Chef des State Department gehört. Im November 1970, zwei Monate nach Allendes Wahlsieg, telefonieren die beiden. "Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Linie im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Menschen auf der Welt wichtig ist", sagt Nixon: "Wenn [Allende] zeigen kann, dass er eine antiamerikanische marxistische Politik etablieren kann, werden andere das Gleiche tun." Kissinger stimmt zu: "Es wird auch in Europa Wirkung zeigen. Nicht nur in Lateinamerika." Kissinger erwähnt insbesondere die Bedeutung eines möglichen marxistischen Vorbilds für ein sozialistisches Italien.

Nach einem Treffen des Nationalen Sicherheitsrates zum Thema steht Nixons neue Linie: maximaler Druck, damit Allendes sozialistische Regierung scheitert. US-Beamte sollen mit anderen Regierungen in der Region zusammenarbeiten, insbesondere Brasilien und Argentinien, um die Bemühungen gegen Allende zu koordinieren; multilaterale Bankkredite an Chile sollen stillschweigend blockiert sowie Exportkredite der Vereinigten Staaten gestrichen werdenn. Bei US-Unternehmen soll dafür geworben werden, Chile zu verlassen, der internationale Marktwert von Chiles wichtigstem Exportgut - Kupfer - manipuliert werden, um der chilenischen Wirtschaft zu schaden. Die CIA wird ermächtigt, Aktionspläne für die künftige Umsetzung der Strategie auszuarbeiten. Der damalige Geheimdienstchef wird später sagen, er habe noch nie so viel Macht erhalten und zugleich eine solche Geheimhaltung erlebt.

Ab 1972 nimmt in Chile die Produktion ab, die Inflation frisst die Reallöhne auf, dem Staat fehlen die Devisen für Importe; eine Lebensmittelversorgungskrise ist die Folge und der Anfang vom Ende der sozialistischen Regierung. Die CIA wusste vorab Bescheid, Mitarbeiter des BND wurden informiert. Eine Warnung der DDR-Regierung an Allende kam zu spät. Nach dessen Suizid im Präsidentenpalast beglückwünschen sich Kissinger und Nixon sich in einem Gespräch dazu, die Rahmenbedingungen für einen Militärputsch geschaffen zu haben.

Der gewaltsame Umsturz in Chile vermengt sich bei den Linken mit einem Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber wirtschaftlichen Interessen des Nordens auf dem ganzen Kontinent. In Bolivien hatte das Militär schon 1971 gegen einen sozialistischen Präsidenten geputscht. 1973 errichtete Uruguays Militär sein Regime. Peru folgte 1975, Argentinien 1976. Paraguay und Brasilien waren ohnehin schon unter der Fuchtel der Generäle. An mehreren Staatsstreichen waren die Vereinigten Staaten auf unterschiedliche Weise beteiligt. Danach halfen sie den Diktaturen verdeckt bei der Ausbildung in Foltermethoden, Planung und internationaler Koordination unter dem Namen Operation Condor.

Geister der Gegenwart

Pinochet putschte Chile in eine historische Spirale, aus der das südamerikanische Land auch 50 Jahre später keinen wirklichen Ausweg gefunden hat. Die Aufarbeitung wurde lange verschleppt. Im Oktober 2019 entlädt sich jahrzehntelanger Unmut über die Folgen neoliberaler Politik, soziale Unwuchten und eine politisch-wirtschaftliche Elite. Monatelang liefert sich die militarisierte Polizei brutale Auseinandersetzungen mit wütenden Demonstranten. Das Land ist im Ausnahmezustand. Die Forderung bei den Unruhen, des "estallido social", ist eine neue Verfassung, sozialere Marktwirtschaft und mehr Teilhabe. Die alte Carta Magna war unter Pinochets Regime entstanden, darin wird dem Privateigentum teilweise mehr Schutz als den Menschenrechten zugesichert. "Bis das Leben würdevoll ist", sprühen Menschen auf Hauswände Santiagos. Auf offener Straße und im ganzen Land wird bei spontanen Treffen die Zukunft Chiles diskutiert.

Der frühere Studentenführer Gabriel Boric wird 2021 zum Präsidenten gewählt. Er regiert mit einer linken Koalition, die erste seit dem Putsch. Boric paraphrasiert bei seiner Siegesrede Allende. Die Menschen weinen vor Glück auf Santiagos Straßen. Ein angestoßener verfassungsgebender Prozess scheitert im ersten Anlauf. Die progressiven Kräfte dominieren bei der Ausarbeitung des Textes, den die Mehrheit der Chilenen in einer Volksabstimmung ablehnt. Der Vorwurf: Die Linken hätten Maximalpositionen in die Carta Magna eingearbeitet, um sich für die Jahre der Diktatur zu revanchieren. Zwar hat inzwischen die Rechte einen Gegenvorschlag ausgearbeitet und das Plebiszit steht noch aus. Aber auch dieser Entwurf steht laut Umfragen vor dem Scheitern. Die Mehrheit will weiterhin eine neue Verfassung. Der Weg dorthin und die Inhalte bleiben hoch umstritten.

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Die Geister Allendes und Pinochets, sie verfolgen das Land so bis heute. Als Ende August Guillermo Treillier stirbt, Ex-Widerstandskämpfer im Untergrund, Chef der Kommunistischen Partei und aktuell Teil der Regierungskoalition, sagt Boric am Rande der Beisetzung: "Es war ein Leben, gewidmet der Schaffung eines gerechteren Chile." Teillier sei "in Würde gestorben, stolz auf das Leben, das er gelebt hat. (..) Es gibt andere, die wie Feiglinge sterben, um sich nicht der Justiz zu stellen."

Die Äußerung löst einen Aufschrei der konservativen Presse und Politik aus. Boric hat sich auf einen weiteren Tod bezogen - den des Ex-Militärs Hernán Chacón Soto, der sich einen Tag zuvor in seinem Haus das Leben genommen hatte. Ein Gericht hatte ihn am selben Tag zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Er und weitere Militärs waren für den Mord an Sänger Victor Jara verantwortlich. Die Polizei kam nicht mehr dazu, den 86-jährigen Soto festzunehmen.

Quelle: ntv.de

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