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Anne Will über Gaskrise Spahn und Lang fetzen sich am Thema vorbei

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Vor allem zwischen Lang und Spahn knirscht es gewaltig.

Vor allem zwischen Lang und Spahn knirscht es gewaltig.

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Wer soll im Winter bei der Versorgung mit Erdgas bevorzugt werden? Verbraucher oder Industrie? Die Talk-Runde bei Anne Will ist sich einig: Es braucht einen Kompromiss. Aber wie genau der aussehen soll und was die Politik wie und wann tun sollte, da gibt es keine Lösung.

Dass eine Talkshow weltbewegende Probleme nicht in 60 Minuten Sendezeit lösen kann, ist klar. Diesen Anspruch hat auch niemand. Aber wenn die geneigte Zuschauerin am Ende einer solchen Sendung mehr Fragen als vorher hat, kann das auch nicht Sinn und Zweck des Ganzen sein. Am Sonntagabend spricht Anne Will mit ihren Gästen über einen Umgang mit und Wege aus der Gaskrise. Sie bekommt eine Vielzahl von Antworten präsentiert, die die immer gleichen Schleifen festgefahrener Argumentationslinien ziehen. Zu weniger Verunsicherung trägt ein solches Format nicht bei.

Muss es aber natürlich auch nicht. Das ist schließlich Aufgabe der Politik. Und die sieht sich momentan mit ganz besonders unsicheren Zeiten konfrontiert. Der Ukraine-Krieg ist in vollem Gange und wird von russischer Seite ohne Rücksicht auf Verluste und Menschenleben geführt. Neben der latenten Angst einer Eskalation der Lage über die Grenzen des ukrainischen Staatsgebiets hinaus, bereiten eine hohe Inflation und Schwierigkeiten bei der Gasversorgung Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland Kopfzerbrechen. Verbraucherinnen und Verbraucher fragen sich, wie lange sie noch ihre Energierechnung und den Wocheneinkauf bezahlen können. Müssen sich die Menschen am Ende entscheiden, ob sie lieber frieren oder weniger essen, fragt Anne Will ihre Talkrunde.

Laut Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat Deutschland ein doppeltes Problem: Es gibt verhältnismäßig viel Einkommensarmut und 35 bis 40 Prozent der Bevölkerung besitzen praktisch kein Erspartes. Das betreffe nicht nur diejenigen, die von der Grundsicherung leben, sondern auch die Mittelschicht. Will spricht die bereits geschnürten Entlastungspakete der Bundesregierung an und fragt, ob diese reichten. Für Fratzscher sind sie "natürlich besser als nichts". Seiner Meinung nach müssten aber zielgerichtetere und vor allem Maßnahmen beschlossen werden, die auch noch in drei Monaten wirken.

Den viel gescholtenen Tankrabatt nennt er die "Ursünde aller Maßnahmen", weil es eine Umverteilung von unten nach oben gebe. Es werde zudem kein Anreiz gesetzt, zu sparen. Höhere Sozialleistungen, wie 100 Euro pro Kopf, wirkten da gezielter bei denen, die es auch wirklich brauchen. "Nur dauerhaft hohe Einkommen können gerade helfen."

Jens Spahn: "Jeden Tag ein neuer Vorschlag ..."

Die bislang beschlossenen Maßnahmen bekommen an diesem Abend ein eher schlechtes Zeugnis ausgestellt. Die Vorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, hat es als Vertreterin der Ampel-Koalition nicht leicht in der Runde. Sie kündigt für den Herbst und Winter weitere Pläne an. "Wir müssen gezielter werden", sagt sie und meint Maßnahmen, die denen helfen, die Fratzscher zuvor erwähnt hat: Menschen mit wenig Einkommen und ohne Erspartes. Es gehe darum, eine "Armutswelle" zu verhindern.

Sie räumt ein Kommunikationsproblem der Koalitionäre ein und mahnt: Verhandlungen über zu treffende Maßnahmen dürfen nicht in der Öffentlichkeit ausgefochten werden. Doch genau das wird momentan getan, wenn etwa die grüne Umweltministerin Steffi Lemke ein Moratorium für Strom- und Gassperren vorschlägt und ihr FDP-Kabinettskollege Marco Buschmann, seines Zeichens Justizminister, diese Idee umgehend ablehnt.

Neben Lang sitzt CDU-Politiker Jens Spahn, der in der privilegierten Position ist, zur Abwechslung mal andere im Krisenmodus zu bewerten. Auch sein Urteil fällt nicht besonders gut aus. Ihm fehlt bei seinen Nachfolgern in Regierungsämtern ein Plan, wohin es eigentlich gehen soll. Also wie zum Beispiel russisches Gas ersetzt werden soll. Beim Krisenmanagement gehe es darum, die Strategie immer wieder an die Umstände anzupassen, sagt der frühere Gesundheitsminister. "Jeden Tag kriegen wir einen neuen Vorschlag, nur entschieden wird nichts." Bundeskanzler Olaf Scholz müsse die Versorgungsproblematik zu seiner Priorität machen. Nach der viel beschworenen konzertierten Aktion mit Bundesregierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften sei nichts passiert.

Höhere Löhne gegen die Inflation?

Einer, der bei dem Treffen Anfang Juli dabei war, ist Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. Er begrüßt das Redeformat und beschwichtigt, es habe sich lediglich um das "Kick-off-Meeting" gehandelt. Es sei um ein gemeinsames Verständnis der Problematik gegangen. Moderatorin Will konfrontiert ihn mit dem Ernst der Lage und den Worten, die er erst vor wenigen Tagen in einem Interview gebraucht hat: "Wir stehen vor der größten Krise, die das Land je hatte." Die wankende Versorgungssicherheit mit Energieträgern wie Gas stellt die Gesellschaft vor große Herausforderungen. Können höhere Löhne helfen, den steigenden Preisen zu begegnen?

Dulger wiegelt ab. Er warnt vor einer Lohn-Preis-Spirale und Betrieben, die sich bereits an den Grenzen des Machbaren befänden. "Wir wissen gerade gar nicht, welches Feuer wir zuerst austreten sollen." Das kann Marcel Fratzscher so nicht stehen lassen. Die Lohn-Preis-Spirale sei ein falscher Mythos. Sie könne zwar entstehen, "aber im Moment sehe ich das nicht". Vielmehr seien höhere Löhne in dieser Krise das beste Instrument, weil die Menschen dadurch permanent mehr Geld in der Tasche hätten und selbst entscheiden könnten, wofür sie es brauchen.

"Wir wollen alle einen sicheren Arbeitsplatz und ein warmes Zuhause", sagt Dulger. Es brauche eine Kombination aus beidem. Wenn es keine Arbeitsplätze in der Industrie gebe, würden keine Löhne ausgezahlt und auch die Sozialkassen nicht gefüllt. Es müsse eine "vernünftige Lösung" für dieses komplexes Problem gefunden werden. "Populistische Schnellschüsse" seien fehl am Platz. Jens Spahn schlägt als mögliche Entlastungen für Bürgerinnen und Bürger die Senkung von bestimmten Steuern vor, etwa der Stromsteuer. Er und Lang sind sich einig, dass zudem ein Energiepreisdeckel für den Grundbedarf eines Haushalts sinnvoll sein kann.

Und ewig grüßt das AKW

Aber was kann auf der anderen Seite getan werden? Woher bekommt Deutschland mehr Energie? Es folgt ein Für und Wider zwischen Spahn und Lang, ob die Atomkraft als eine Möglichkeit auch nach dem avisierten Abschaltdatum der drei verbliebenen Meiler erhalten bleiben sollte. Der CDU-Bundestagsabgeordnete vertritt die Position, die zuweilen auch aus den Reihen der FDP zu vernehmen ist: Die AKW sollten länger am Netz bleiben.

Grünen-Chefin Lang steht dem Ganzen unversöhnlich gegenüber, stellt allerdings einen weiteren Stresstest in Aussicht, der ergebnisoffen prüfen soll, ob es unter bestimmten Vorzeichen zu einem Strommangel kommt und dann doch ein Weiterbetrieb nötig sein könnte. Das sagt sie so nicht direkt, auch nicht trotz mehrmaligen Nachhakens von Anne Will. Aber sie wolle alle Möglichkeiten offen halten, betont Lang.

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Der FDP wirft die Grünen-Politikerin vor, sich Sorgen um Umfragewerte zu machen, und deswegen von der "klaren Grundlinie" der Koalition in der Sache abzuweichen. Bei einer Gasmangellage im Winter helfe der Strom aus den AKW nicht, weil er nicht flexibel einsetzbar sei und eh nicht das Problem der fehlenden Wärme durch zu wenig Erdgas lösen könne, argumentiert sie. Und mit Blick auf die Kosten-Nutzen-Abwägung (Haftungsrisiko der Betreiber, Verzichten auf Sicherheitsstandards, neue Brennstäbe usw.) sei die Kernkraft ohnehin abzulehnen. Spahn sieht das ganz anders und redet dagegen an. Nur das Schlusswort von Moderatorin Will kann die unversöhnlichen Diskutanten zum Verstummen bringen.

Für lediglich sechs Prozent Anteil an der gesamtdeutschen Stromproduktion bekommt die Atomkraft einen großen Platz, sowohl in der Sendung als auch in der öffentlichen Debatte. Am Oberthema Wege aus der Gaskrise führt das leider vorbei. Diskussionen wie diese sind nicht nur ermüdend, sie verunsichern auch und werfen Fragen auf. Eine Person mit Expertise, die das Gesagte unabhängig bewertet, hätte der Sendung gut getan. DIW-Präsident Fratzscher bringt es auf den Punkt: Mit der anhaltenden Unsicherheit schadet Deutschland sich selbst. Es brauche einen konkreten Plan, damit Unternehmen und Verbraucher wissen, worauf sie sich in Zukunft einstellen müssen.

(Dieser Artikel wurde am Montag, 18. Juli 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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